"Es war ein Fehler, Impfpflicht auszuschließen"
KURIER: Welche ethischen Fragen haben durch die Pandemie Ihrer Meinung nach an Brisanz zugenommen?
Ulrich Körtner: Der Anfang der Pandemie war für alle eine tiefe Zäsur. Sie hat dazu geführt, dass manche die Hoffnung hatten, wir könnten aus dem Hamsterrad unserer Konsum- und Wachstumsgesellschaft aussteigen und in ein anderes Leben hineinkatapultiert werden - etwa was Mobilität oder Klimaschutz betrifft; dass alternative Formen nachhaltigen Wirtschaftens möglich werden. Und vor allem dass so etwas wie ein neuer Gemeinsinn entstehen könnte.
Woran machen Sie das fest?
Anfangs schrieb man dem Virus fast so etwas wie eine demokratisierende Funktion zu: weil es keinen Unterschied macht zwischen Arm und Reich. Es entstand so etwas wie ein neues Wir-Gefühl, durchaus auch mit nationalen Untertönen, wenn Sie daran denken, wie oft Fendrichs „I am from Austria“ gespielt wurde. Man applaudierte denen, die plötzlich als „systemrelevant“ entdeckt wurden: Krankenschwestern, Supermarktkassiererinnen, Feuerwehrleute, Polizisten. In der Politik war die Rede von einem nationalen Schulterschluss, man bemühte sich, parteiübergreifend mit der Situation zurechtzukommen. Für die es natürlich auch keine Blaupause gab, weil keiner der politisch Verantwortlichen so etwas je erlebt hatte und es seit der Spanischen Grippe es auch nichts Vergleichbares mehr gab.
Davon ist wenig übrig geblieben …
Ja, manche wie Matthias Horx haben zwar von einer schönen neuen Welt fantasiert, wie wir da auf den Balkonen und in den Gärten ein neues Biedermeier feiern. Aber davon ist tatsächlich immer weniger übrig geblieben, irgendwann war es mit dem Applaudieren vorbei, auch dieser nationale Schulterschluss hat sich abgenützt, und es ist ein Stück weit wieder politische Normalität eingetreten. Dies übrigens auch auf europäischer Ebene, um nicht gleich den Weltmaßstab zu bemühen. Auch da war von neuer Solidarität die Rede, von gemeinschaftlichen europäischen Lösungen, etwa beim Einkauf von Impfstoff oder von Masken. Und auch hier ist vom Gemeinsinn wenig übrig und viele dieser romantischen Illusionen von der neuen, nachhaltigen Gesellschaft, die haben sich in Luft aufgelöst.
Wo stehen wir jetzt?
Abgesehen davon, dass es - was durchaus positiv ist - wieder politische Normalität haben, sehen wir jetzt ganz deutlich tiefe Risse quer durch die Gesellschaft, etwa beim Thema Impfen. Mittlerweile gibt es eine starke Lagerbildung, eine scharfe Polarisierung.
Waren die anfänglichen Vorstellungen eines radikalen Wandels nicht völlig überzogen?
Meiner Ansicht nach, ja. Der Soziologe Armin Nassehi hat sinngemäß gesagt: Corona verändert alles - und es ändert sich nichts. Will sagen: soziale und politische Systeme haben in sich eine große Beständigkeit, wenn es nicht den totalen Zusammenbruch gibt, wie etwa nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es sind auch lernende Systeme, die es schaffen, mit solchen Krisen umzugehen. Insofern war die Vorstellung, dass durch eine Naturkatastrophe eine große gesellschaftliche Revolution stattfinden würde, von Anfang an illusorisch.
Sie haben schon den Begriff „Normalität“ verwendet, der in der Debatte häufig vorkommt. Was bedeutet er für Sie?
Für mich ist es ein schillernder Begriff. Positiv sehe ich, dass wir nach wie vor in einem demokratischen Rechtsstaat leben, auch wenn es Verschwörungstheoretiker gibt, die von „Impfdiktatur“ u. Ä. raunen. Es sind beispielsweise in der ersten Zeit Verordnungen erlassen worden, die dann vom VfGH kassiert worden sind. Man kann das als Beleg dafür nehmen, dass die politisch Verantwortlichen punktuell unrechtmäßig gehandelt haben. Aber auch dafür, dass das Rechtssystem funktioniert. Ich finde auch positiv, dass man nicht den permanenten Ausnahmezustand zelebriert. Der rechtslastige Staatsrechtler Carl Schmitt hat ja gesagt: Politische Macht hat der, der über den Ausnahmezustand verfügt. Problematisch finde ich, dass wir nun wieder in unserem bewährten österreichischen Alltag angekommen sind - mit den Rankünen der Parteien und ihrer Akteure, wo in dem Kleinklein unterzugehen droht, dass wir es bei dieser Pandemie nach wie vor mit einer sehr ernstzunehmenden Bedrohung zu tun haben. Da wird dann im tagespolitischen Geschäft inklusive Schielen auf Landtagswahlen übersehen, dass eine Politik des Durchwurstelns, der Verwalten statt Gestaltens nicht die angemessene Antwort auf die Pandemie ist.
Was meinen Sie mit den nationalen Untertönen, von denen Sie zuerst gesprochen haben?
Es war oft davon die Rede, dass wir gegenüber den großen Apotheken dieser Welt, China und Indien, autonomer werden müssten. Da wurden dann nationale Lösungen beschworen: „Masken made in Austria“ beispielsweise - wir wissen, wie das dann ausgegangen ist. Ich erinnere auch an den Aktionismus des Kanzlers, im Alleingang gemeinsam mit Israel Impfstoffe zu produzieren - heute redet kein Mensch mehr davon. Oder aus dem europäischen Konsens auszuscheren und anzukündigen, Sputnik einzukaufen - hat auch schon fast jeder vergessen. Und dann muss man sagen: es gibt auch die, who are not from Austria, etwa 24-Stunden-Kräfte.
Sie haben schon die Impffrage erwähnt, die zur Zeit besonders für Polarisierung sorgt. Genau gesagt, geht es darum, inwieweit man zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheiden darf bzw. muss …
Ich glaube, man muss zunächst einen Schritt zurücktreten, damit man nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Worum geht es: um die Bekämpfung einer Pandemie, die wir - im Unterschied zur Pest oder den Pocken - vermutlich nur eindämmen werden können. Es geht darum, dass auftretende Fälle von Erkrankungen nicht das Gesundheitssystem in Stress bringen und dass auch unsere Wirtschaft nicht immer unter Druck gerät. Man muss ja auch die mittelbaren psychischen und sozialen Folgen betrachten, die auch enorme ökonomische Auswirkungen haben. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Das Ziel muss also sein, eine halbwegs funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft zu haben, ganz wesentlich auch ein funktionierendes Schul- und Bildungswesen. Und um dieses Ziel zu erreichen, sehe ich derzeit keine Alternative zu einer massenhaften Impfung der Bevölkerung, und zwar auch im globalen Maßstab. Die Pandemie ist ja auch für uns erst dann vorbei, wenn sie weltweit vorbei ist. Die Aussage des Kanzlers, für die Geimpften sei mit diesem Sommer dann die Pandemie vorbei, war einfach Unfug.
Was ist mit dem Testen?
Dauerhaftes Testen ist mit dem Impfen nicht gleichzusetzen. Auch bei der Forschung nach Medikamenten zeichnet sich nicht ab, dass das in absehbarer Zeit eine Alternative sein könnte. Die Impfung ist also das Schlüsselelement einer kohärenten Pandemiestrategie. Wenn das aber so ist, und gleichzeitig ein nennenswerter Teil der Bevölkerung - aus welchen Gründen immer, die dürften ja durchaus unterschiedlich sein - die Impfung prinzipiell ablehnt, dann haben wir ein ernstes Problem. Als Ethiker würde ich sagen, das ist ein Indiz dafür, dass überkommene Vokabel wie Gemeinsinn oder Gemeinwohl aus der Mode gekommen sind. So gesehen ist die Pandemie auch ein Brennglas, unter dem deutlich wird: es dominiert in unserer Gesellschaft sehr stark ein konsumistisches, ja, egoistisches Freiheitsverständnis, welches Rechte einfordert, dabei aber übersieht, dass es diese nicht ohne Pflichten gibt. Wobei Pflichten ja für das Gemeinwesen da sind und es letztlich auch im wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, dazu etwas beizutragen. Aber dieser Gedanke ist offenbar fremd geworden. Auch die Politik traut sich höchstens halbherzig und auf Umwegen solches den Menschen nahezubringen.
Für die Politik stellt sich die Frage, wie viel Druck legitim ist, um als wünschenswert Erkanntes durchzusetzen. Sie haben sich beispielsweise für ein Ende der Gratistests ausgesprochen, aber gegen Selbstbehalte für Ungeimpfte …
Ich halte es für einen schweren strategischen Fehler der Politik, gesagt zu haben, dass man nie für irgendjemanden eine Impfpflicht einführen werde. Das habe ich schlicht für falsch gehalten. Gerade aus einer verantwortungsethischen Perspektive - nicht bloß aus einer machtpolitischen Überlegung heraus - sollte man sich prinzipiell alle Optionen offenhalten. Natürlich mit Ausnahme solcher, die im Widerspruch zur Humanität stehen, zu Menschenwürde und -rechten. Aber Impfen zählt hier sicher nicht dazu. Indem man aber diese Option ausgeschlossen hat, hat man etwas aus der Hand gegeben, von dem man weiß, wir bräuchten es. Und man hat damit der Opposition, namentlich der FPÖ, eine Steilvorlage geliefert: Sie kann nun jeden Schritt in Richtung auch nur einer indirekten Impfpflicht als „Verrat“ oder „Umfallen“ zu brandmarken. Man ist also in eine selbstgestellte Falle hineingelaufen.
Hielten Sie demnach auch eine generelle Impfpflicht für ethisch vertretbar?
Theoretisch ja. Es geht in der Ethik immer um Verhältnismäßigkeit. Die gelinderen Mittel sind immer den härteren vorzuziehen. Alles, was auf Einsicht, Freiwilligkeit etc. baut, ist hundertmal besser als Zwangsmaßnahmen. Wenn ich aber sehe, dass ich mit dem Appell an Eigenverantwortung nichts erreiche, dann ist es durchaus vertretbar, mit Sanktionen zu arbeiten. Denken Sie an die Gurtenpflicht, die in den 1970er Jahren eingeführt wurde - da gab es heftige Debatten; aber heute wird diese Freiheitseinschränkung ganz selbstverständlich in Kauf genommen. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, dass zumindest Impfpflichten für bestimmte Berufsgruppen in Frage kommen: Gesundheitsberufe, auch pädagogische Berufe, körpernahe Berufe, Polizei, Feuerwehr.
Und was sagen Sie darüberhinaus zu einer generellen Impfpflicht „durch die Hintertür“, wie es Kritiker nennen: dass also bestimmte Dinge nur für Geimpfte zugänglich sind?
Das halte ich sowohl ethisch wie juristisch für zulässig. Wobei, wie gesagt, man sich den Vorwurf des „durch die Hintertür“ selbst eingehandelt hat, weil man von vornherein nicht von Impfpflichten sprechen wollte. Aber bestimmte Dinge an eine Impfung zu knüpfen, halte ich ethisch für dann berechtigt, wenn man es begründen kann nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Gerechtigkeit.
Was heißt hier Gerechtigkeit?
Dass die Lasten und der Nutzen von Maßnahmen einigermaßen gerecht verteilt sind. Damit komme ich zum Thema Testen: Wieso sollen die Geimpften weiterhin dafür bezahlen, dass Leute, die nicht aus gesundheitlichen Gründen ungeimpft sind, sich nicht impfen lassen wollen? Gerade wenn wir am solidarischen Gedanken unseres Gesundheitssystems festhalten wollen, dann kann der einzelne nicht fordern, dass auf seine Befindlichkeiten Rücksicht genommen wird und die anderen dafür zu bezahlen haben.
Und wie sieht es dann mit Selbstbehalten für Ungeimpfte aus? Ein Test, für den ich bezahlen muss, ist ja auch eine Art Selbstbehalt …
Ja, aber da kommt jetzt wieder die Verhältnismäßigkeit ins Spiel. Einen Test nicht zu bezahlen, bedeutet ja nicht, jemanden krank werden zu lassen - er könnte sich ja auch impfen lassen. Etwas anderes ist es aber von jemandem, der erkrankt ist, einen Beitrag zu seiner Behandlung einzuheben. Wie hoch sollte dieser Beitrag denn sein? Wenn wir von einem schweren Verlauf mit stationärer Behandlung ausgehen, dann sind wir schnell im fünfstelligen Euro-Bereich. Wie hoch müsste der Selbstbehalt sein, um einen Lenkungseffekt auszulösen? Unser Gesundheitssystem basiert auf dem Solidaritätsprinzip. Das sollten wir außer Streit stellen. Überhaupt: Wenn wir in diesem Bereich mit Selbstbehalten anfangen, warum machen wir das dann nicht auch bei Rauchern, Übergewichtigen etc.? Da kommen wir sehr schnell in eine Gesundheitsideologie, wo genormt ist, wie man sich zu verhalten hat, wie man sich ernähren soll, wie oft man etwa joggen gehen muss … Das halte ich mit den Grundsätzen einer freiheitlichen Gesellschaft nicht für vereinbar. Ganz abgesehen von der Frage, wie weit das dazu führt, dass jemand nicht zum Arzt geht, in der Folge noch kränker wird, möglicherweise Dritte ansteckt etc. Das wäre noch ein Argument gegen Selbstbehalte aus utilitaristischer Sicht: dass es Effekte nach sich ziehen könnte, die gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswert sind.
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