SPÖ sucht plötzlich Chef: Tagebuch einer Intrige

SPÖ sucht plötzlich Chef: Tagebuch einer Intrige
Der Chaos-Tag, an dem Christian Kern die EU-Kandidatur verkündete, fußt auf einer Intrige. Wer die SPÖ übernimmt, bleibt offen.

Ihnen bleiben 26 Tage, und zwar maximal. Bis spätestens 15. Oktober will die Sozialdemokratie den Nachfolger oder die Nachfolgerin für Christian Kern an der Parteispitze gefunden haben.

Und eines zeichnet sich nach dem „kommunikationsstrategischen Desaster“ (© Peter Kaiser) rund um Kerns Rückzug von der Parteispitze ab: Es wird eine – gelinde gesagt – fordernde Suche.

Denn noch bevor die Parteispitze am Mittwoch entschieden hatte, wie es mit der ältesten Partei Österreichs im Detail weiter geht, deponierten aussichtsreiche Kandidaten eilig den Verzicht.

Die erste war Doris Bures. „Ich stehe für die Funktion nicht zur Verfügung“, sagte die Zweite Nationalratspräsidentin gleich Mittwochmorgen. Kurz darauf folgte der Burgenländer Hans Peter Doskozil. Und auch Landeshauptmann Peter Kaiser sah sich genötigt daran zu erinnern, dass er den Kärntnern im Wort ist – und sicher nicht SPÖ-Parteichef werden wird.

Soviel zu den Absagen. Wie aber geht es weiter?

Der neue Zeitplan

Gesichert ist: Der für 6. und 7. Oktober geplante Parteitag wird verschoben. Stattdessen geht die SPÖ in Klausur, um bis 15. Oktober Kerns Nachfolger zu fixieren. Gewählt wird er oder sie am 24. und 25. November bei einem Parteitag, an dem auch die von Kern angeführte Liste für die EU-Wahl beschlossen werden soll.

Der formale Ablauf ist also paktiert. Doch am Murren, ja am unverhohlenen Zorn, der in Teilen der Partei sowie in der ihr nahe stehenden Gewerkschaft bis zuletzt zu vernehmen war, konnte der Fahrplan zum Parteitag freilich wenig ändern.

Der Zorn

„Wir waren alle überrascht über die Entscheidung, und das Timing war ein Desaster – unsere ganzen Themen wie der Protest gegen den 12-Stunden-Tag wurden zugedeckt“, ärgert sich der Chef einer Teilgewerkschaft im KURIER-Gespräch.

In der Wiener SPÖ wurde sogar hartnäckig die Geschichte erzählt, Kern habe überhaupt erst 15 Minuten vor seinem Statement Dienstagabend entschieden, dass er EU-Kandidat werden will.

„Durch sein einseitiges, unkoordiniertes Vorgehen ist der Partei Schaden entstanden“, wettert ein hochrangiger Wiener Funktionär.

Ein anderer zweifelt ganz grundsätzlich an der politischen Vernunft Kerns: „Dieser Typ ist irrational und hat uns in massive Turbulenzen gestürzt.“ Es sei gerade heraus ein „Schwachsinn“, dass die Bekanntgabe von Kerns Rücktritt auf Raten mit der Sitzung der europäischen Sozialdemokraten am Mittwoch in Salzburg zu tun habe. „Da wird überhaupt nichts entschieden.“

Die Intrige

Tatsächlich war die überraschende Präsentation von Kerns Kandidatur alles andere als so geplant.

Doch laut dem KURIER vorliegenden Informationen war der Ablauf vom Dienstag nicht – wie bisweilen kolportiert – allein der Sprunghaftigkeit geschuldet, die Kerns Gegner ihm gerne nachsagen.

Vielmehr war der Noch-SPÖ-Chef einfach zum Handeln gezwungen, weil er Opfer einer Indiskretion, man könnte auch sagen einer internen Intrige geworden war.

Diese stellt sich wie folgt dar: In kleineren Runden hat Christian Kern schon vor längerem die Idee geäußert, bei der EU-Wahl als SPÖ-Spitzenkandidat anzutreten.

Am Montag wussten zumindest vier enge Vertraute – Doris Bures, Michael Ludwig, Peter Kaiser und Wolfgang Katzian – dass Kern als Parteichef den Rückzug antreten möchte. „Allerdings war es noch nicht 100-prozentig fix, Christian schwankte hin und her, er zauderte“, sagt einer der vier. Gesichert ist: Doris Bures sprach Kern Montagabend eine Stunde lang unter vier Augen, um ihn noch umzustimmen. In diesen Stunden sprach Kern allerdings nicht von einer EU-Kandidatur, sondern lediglich davon, dass er den Vorsitz sein lassen wolle.

Die Aussagen, wann Kern am Dienstag genau wem gesagt hat, dass er als EU-Spitzenkandidat antreten will, darüber gehen seine und die Schilderungen anderer wichtiger Parteigrößen stark auseinander.

Tatsache ist, dass die Dramaturgie am Dienstag von einem unerwarteten Informanten erheblich gestört wurde.

Rot-türkise Connection

Denn  die sensible Information, dass Kern zurücktreten will, drang nach außen. Und sie landete – Achtung, große Überraschung! – mitten in der Volkspartei. Konkret soll ein Mitarbeiter der SPÖ direkten Kontakt zu einem Mitarbeiter der Bundes-ÖVP gehalten haben, um Kerns Rücktritt vorab zu verkünden.

Klingt irrational? Ist es auch. Zumindest aus Sicht der Bundes-SPÖ und treuer Funktionäre. Fakt ist, dass die Volkspartei nachweislich zu einem Zeitpunkt über Kerns geplante Demission Bescheid gewusst hat, als selbst hochrangige Gewerkschafter und Parteifunktionäre in der SPÖ noch im Dunklen tappten.

Kerns Rücktritt wurde, soviel ist klar, aus den eigenen Reihen „geleaked“, sprich vorab und gegen seinen Willen kommuniziert.

Diese Tatsache wird in der SPÖ nicht einmal mehr dementiert. So bestätigte etwa Tirol SPÖ-Chefin Elisabeth Blanik gerade heraus, „dass Halbbotschaften an die Öffentlichkeit gelangt seien“. Das Verhalten jener Genossen mit „einem besonderen Mitteilungsbedürfnis“ sei „unsinnig und schädigend“. Bleibt die Frage: Wem in der Sozialdemokratie konnte es nutzen, wenn vorschnell der Rücktritt des Parteichefs ventiliert wird?

Darauf gibt es mehrere plausible Antworten.

Antwort A: Rache, sprich: der Geheimnis-Verräter wollte den Noch-Parteichef schädigen. Antwort B: Man wollte Druck aufbauen, damit Kern tatsächlich als EU-Kandidat antritt – was geglückt ist.

Und dann gibt es noch eine dritte Erklärung, nämlich: Beide Antworten treffen gleichermaßen zu.

Reaktionen nach Kern-Abgang

Pressekonferenz Max Lercher zum Thema Kern

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