Was sagen die Wiener zu Kerns plötzlichem Rücktritt?
Es war ein Tag, der in die österreichische Politikgeschichte eingeht. Lange herrschte die Vermutung, dass sich Christian Kern aus der Spitzenpolitik zurückziehen und seinen Sitz als SPÖ-Chef abgeben wird. Am Abend beendete der Ex-Kanzler selbst alle Spekulationen: Ja, er werde den Parteivorsitz abgeben. Dafür werde er aber im Mai 2019 bei der EU-Wahl als Spitzenkandidat für die SPÖ kandidieren.
Die Ankündigung kam für seine Parteikollegen ebenso überraschend wie für die Journalisten und die Bevölkerung. Wir haben uns umgehört, was die Wiener Bevölkerung von dieser Kehrtwende hält.
Der 76-jährige Pensionist und Taxifahrer Egon nennt Kern einen "Feigling", der das österreichische Politparkett nur deswegen verlassen will, weil es ihm "zu viel Arbeit ist". In Europa wäre es um Kern ruhiger als in der Innenpolitik, er möchte sich wohl selbst etwas Gutes tun.
Für die SPÖ wünscht er sich eine Frau an der Spitze, als seine Wunschkandidatin nennt er die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures: "Dann nehmen wir doch einfach eine Frau, weil die Frauen sind ja auch sehr tüchtig", so der 76-Jährige.
Frau Ruttner, 61 Jahre alt und Pensionistin, findet die Berichterstattung über Kerns Rückzug verfrüht. "Er ist ja noch nicht zurückgetreten und behält seine Funktion inne bis zur EU-Wahl." Einen Antritt Kerns für die SPÖ begrüßt sie aber: "Ich finde es sehr gut, dass er für die EU-Wahl für die SPÖ kandidieren wird.“ Die Wahl würde dadurch in jedem Fall spannender, ihre Stimme werde sie auf jeden Fall abgeben. „Ich weiß aber noch nicht, ob ich Kern wähle“, so die Pensionistin.
Ebenso positiv sieht eine 58-jährige Angestellte im Öffentlichen Dienst Kerns EU-Kandidatur für die SPÖ, ihren Namen will sie aber nicht in den Medien finden. "Ich finde es eine total gute Sache von ihm, was er gemacht hat. Und ich finde er ist auch sicher mehr fähig als manche anderen Politiker." Kerns Entschluss sieht sie als gute Gelegenheit, den rechtspopulistischen Parteien einen Strich durch die Rechnung zu machen. "Für mich ist es wichtig, dass die rechten Populisten und rechten Parteien in Europa abgewählt werden, die jetzt im Vormarsch sind. Und ja, ich würde Christian Kern auch wählen."
Ein 24-jähriger Berater aus Wien - auch er will ungenannte bleiben - sieht den überraschenden Rückzug als ein "schwieriges Thema". Er kritisiert Kern dafür, das von ihm angekündigte "Langzeitprojekt" SPÖ-Führung so frühzeitig zu beenden. "Das dann gleich zu lassen, das hat was von: ich geh den leichteren Weg." Seiner Meinung nach hat Kern in der EU weniger Handlungsmöglichkeiten als an der SPÖ-Spitze. Seine Kandidatur sieht er als Chance, dass die EU-Wahl mehr Aufmerksamkeit in der österreichischen Bevölkerung bekommt, "weil Kern schon ein bekanntes Gesicht ist." Obwohl er selbst nicht wahlberechtigt ist, wäre Kern für ihn der Kandidat, den er bei der EU-Wahl wählen würde. Kerns Wirtschaftsvergangenheit sieht er als hilfreich: "Er hat für mich eine der höheren Kompetenzen in der Politik."
Für einen 65-jährigen Pensionisten kommt Kerns Rückzug wenig überraschend: "Es war eigentlich abzusehen, dass Christian Kern neben Sebastian Kurz nicht länger bestehen wird, da es sich aufgrund seiner Charaktereigenschaften nicht in die Zweier-Linie setzen lässt." Die Spontanität und den "Rücktritt vom Rücktritt" findet er aber nicht in Ordnung und vermutet eine daraus resultierende Verunsicherung in der Bevölkerung. Den Wechsel nach Europa sieht er als Chance für den scheidenden SPÖ-Chef, damit er "nicht ganz von der Bildfläche verschwindet". Kerns Möglichkeiten in der EU beurteilt er skeptisch: Er glaube nicht, dass "das Vertrauen in Christian Kern so groß ist, dass er hier wirklich punkten kann".
Der 45-jährige Wolfgang Fellner, Vertriebler im Außendienst, findet Kerns Entscheidung gut, "weil er kein Oppositionspolitiker ist". Wirkliche Durchsetzungsfähigkeit traut er ihm aber nicht zu: "Ich denke, dass er in Europa auch nur die zweite Geige spielen wird." Die Aussichten für eine Kandidatur Kerns für die europäische Sozialdemokratie sieht er skeptisch. Da die Konservativen mit großer Sicherheit einen deutschsprachigen Kandidaten aufstellen werden, vermutet er, dass die Sozialdemokraten einen anderen Kandidaten wählen werden. Die EU-Wahl sei aber eine Gelegenheit, dem "Orbanismus etwas entgegenzusetzen". Sein Resümee: "Ob Christian Kern da der Richtige ist, wird sich zeigen."
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