Soziologe Güngör über die Krawalle von Linz: "Das sind unsere Kinder, nicht die Aussätzigen"
Der Soziologe Kenan Güngör ist spezialisiert auf Jugend, Diversität, Konflikt- und Gewaltanalysen. Der Deutsche lebt seit 2007 in Österreich und berät Bundesländer und die Bundesregierung bei Integration und Diversitätsmanagement. Der KURIER sprach mit Güngör aus Anlass der Ausschreitungen in Linz über Jugendprotest.
KURIER: Herr Güngör, was ist der gesellschaftliche Hintergrund für die Jugendkrawalle in Linz?
Kenan Güngör: Diese Jugendlichen kommen aus sozial schwächeren Milieus, aus der Streetcorner-Society. Sie haben großteils Migrationshintergrund, ihre Wohnung ist der öffentliche Raum, weil es zu Hause eher beengt ist. Gleichzeitig sind diese Jugendlichen stark erlebnisorientiert. Da tut sich ein Gap auf – denn ihr Alltag ist oft sehr trist. Bei schulischen Perspektiven, Einkommen, gesellschaftlicher Anerkennung haben sie nicht viel vorzuweisen. Da staut sich Frust auf. Das ist ein Begünstigungsfaktor für Krawalle.
Heißt das, diese Krawalle passieren auch aus Erlebnisarmut?
Junge Männer suchen bei Konflikten den öffentlichen Raum, die Arena. Sie wollen gesehen werden. Die Jugend sucht auch die Action, die Reibung, man möchte ein Kämpfer sein. Der Held, der gegen die Mafia, den Staat oder das System kämpft, ist auch ein starkes Narrativ der Filmindustrie.
Ein Film spielte auch in Linz eine Rolle, Athena, in dem migrantische Jugendliche die Polizei für den Tod eines Freundes verantwortlich machen. Jugendliche Filmrebellen gibt es seit James Dean, neu sind die sozialen Medien. Welche Rolle spielen diese?
Jugendliche brauchen heute die klassischen Gangs, die feste Organisation nicht mehr. Die Jugendlichen sind durch die sozialen Medien in mehreren losen Cliquen gleichzeitig vernetzt. Die Freundeskreise haben sich sehr stark ethnisch pluralisiert, die Cliquen sind multi-ethnisch. Das merkt man auch auf den Schulhöfen. Die gemeinsame Sprache wird dadurch Deutsch. Die Bindung läuft über Tiktok, Instagram, Whatsapp. Wenn jemand postet „Da oder dort ist morgen eine Schlägerei, kommt hin“, wird das weiter geteilt und bekommt eine unheimlich große Verbreitung. So entstehen situative Gruppenbildungen, und es kann schnell zur Eskalation kommen.
Nimmt dadurch die Gewalt zu?
Solche flashmob-artigen, kurzfristig erscheinenden, skandalträchtigen Mobilisierungen werden immer wieder vorkommen und Irritationen auslösen. Aber generell geht die Jugendgewalt und die Gewalt insgesamt in Österreich zurück. Das ist einer der Gründe, warum die Empörung über Ausschreitungen wie in Linz so groß ist. Wir sind Gott sei Dank eine Gesellschaft, die Gewalt stark ächtet. Wenn sie dann passiert, entsetzt uns das umso mehr.
Was ist die adäquate Reaktion auf diese Art von Jugendgewalt?
Man muss sich die Gruppenstruktur genau anschauen. Der Kern ist eine gewaltbereite, kriminalitätsaffine Jugendszene, die die Keilerei sucht und andere anstiftet. In deren Umkreis gibt es die Aufpeitscher. Der weitere Kreis sind Jugendliche, die über die sozialen Medien mitbekommen: Hey, heute Abend gibt es in der Stadt Action. Die suchen lediglich ein Abenteuer. In der Gruppe tun sie dann aber oft Dinge, die sie in der Einzelsituation nie machen würden.
Was sind adäquate Strafen?
Gegen den Kern der gewaltaffinen Jugendlichen muss man mit entsprechender Härte des Gesetzes vorgehen. Zusätzlich braucht man auch Sozialarbeiter und bildungsbezogene Ansätze, damit sich dieses Milieu nicht verfestigt und die Jugendlichen da herauswachsen können. Bei Mitläufern braucht es andere Ansätze. Daher ist es falsch, hier pauschale Urteile zu fällen. Die Strafe für die Jugendlichen sollte auch eine Wiedergutmachung beinhalten, sodass ihnen bewusst wird, was sie durch ihr Fehlverhalten angerichtet haben.
Die Politik führt jetzt eine Asyldebatte. Bringt das etwas?
Die Asyldebatte ist eine Themenverfehlung. Die Ansage „Die schieben wir ab“ ist politisches Kalkül. Sie wird in der Sache nichts helfen, denn die Mehrheit der jungen Männer, um die es geht, sind keine Asylwerber. Diese Jugendlichen leben hier und stammen aus verschiedensten Ethnien.
Warum zeigen die Menschen reflexartig auf Ausländer, auch wenn, wie in Linz, Österreicher ebenso unter den Tätern waren?
Überall auf der Welt herrscht eine Grundeinstellung, die lautet: Zuwanderer oder Flüchtlinge, denen man geholfen hat, haben Dankbarkeit und Demut zu zeigen. Wenn sie eine Tat begehen, ist die Empörung stets größer als wenn es die eigenen Kinder machen.
Wenn man von Jugendlichen, die hier geboren sind, Demut verlangt, weil ihre Eltern oder Großeltern Migranten waren, ist das nicht kontraproduktiv? Die müssen sich ja ausgestoßen fühlen.
Wenn man immer das Gefühl hat, nur geduldet zu sein, greift ein Film wie Athena eher. Diese Jugendlichen erleben eine doppelte Verfremdung: Wir gegen die Erwachsenen, und wir als die Fremdkörper. Die Asyldebatte bestätigt das. Wir tun so, als wären das die Aussätzigen, die nicht dazugehörenden Kinder. Wichtig wäre hingegen zu sagen: Das sind unsere Kinder, und wir wollen nicht, dass sie gewaltbereit werden, was können wir dagegen tun.
Klimakrise, Krieg, Pandemie – leben die Jugendlichen heute in einer No-Future-Phase?
Ich würde eher sagen, wir erleben einen Kontrollverlust. Es gibt die diffuse Sorge, dass das Haus, in dem man lebt, jederzeit auseinanderfliegen kann. Die Sicherheit, dass alles stabil ist, die Zuversicht, dass alles immer besser wird – dieses Versprechen der Moderne ist entzaubert. Die Unkalkulierbarkeit der Welt löst eine Sehnsucht nach Sicherheit aus, und dieser Umstand kommt den Populisten mit ihren einfachen Antworten zugute.
Warum trauen so viele, auch jugendliche Menschen etablierten Parteien und Politikern keine Lösungen mehr zu?
Alle Institutionen leiden an Autoritätsverlust, und die Korruptionsfälle zeigen auch kein Bild von Politik, wie sie sein sollte. Hinzu kommt die Empörungs- und Skandalbewirtschaftung der Medien. Es werden weniger Sachfragen und politische Haltungen diskutiert, sondern man ist dauerhaft empört. Ich halte das für problematisch.
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