Verschlusssache SOS-Kinderdorf: 991 geheime Seiten
Neues Gesetz für mehr Effizienz in der Verwaltung.
Spät, aber doch: Am vergangenen Freitag hat SOS-Kinderdorf Österreich anlässlich der Vorwürfe gegen den 2024 verstorbenen langjährigen Präsidenten Helmut Kutin eine Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck samt angeblich sämtlicher „derzeit vorliegender Unterlagen“ eingebracht.
Darunter ein 262-seitiger, englischsprachiger Bericht einer Kommission, die im Auftrag des Dachverbands Missstände in Kinderdörfern auf der ganzen Welt untersucht hat. Die „Independent Special Commission“ (ISC) lieferte im Juni 2023 ihren Endbericht ab – der KURIER hat ihn vergangene Woche entdeckt und darüber berichtet.
Aber es gibt noch mehr: eine Vollversion mit 991 Seiten, auf die in der Kurzversion zwar hingewiesen wird, die bis dato aber unter Verschluss ist.
Nach mehrmaliger Nachfrage des KURIER am Dienstag erklärt ein Sprecher von "SOS-Kinderdorf International" dann, es werde gerade geprüft, „ob und in welcher Form wir den Bericht oder Teile davon an die Staatsanwaltschaft übermitteln können“.
Wer hat die Langfassung?
Für die Strafverfolgung dürfte das durchaus interessant sein: Während die 262-seitige Version anonymisiert ist (freilich auch zum Schutz von Informanten und Opfern) und mögliche Täter bzw. Mitwisser nur unter ihrer vagen Funktionsbezeichnung vorkommen, enthält die 991-seitige Vollversion alle Namen und Details zu Vorwürfen und Verdachtsmomenten, die von der Kommission erhoben wurden.
Dazu gehören neben Kindesmissbrauch auch Geldwäsche und Menschenhandel. Der Kommission gehörten Ex-Höchstrichter, Ex-Kripo-Beamte und ein UN-Sonderermittler für Kindesmissbrauch an. Experten, die mit solchen Begriffen wohl nicht leichtfertig um sich werfen.
Der KURIER hat sich auf Spurensuche begeben. Dem Landesverein "SOS-Kinderdorf Österreich" liegt die Langfassung nicht vor, weshalb man sie auch nicht an die Strafverfolgung weiterleiten konnte, heißt es am Dienstag. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck kann nur prüfen, was sie hat.
Deren Sprecher Hansjörg Mayr bestätigt den Eingang der Sachverhaltsdarstellung – ob sich diese gegen konkrete Personen richtet, kann er noch nicht sagen. Wegen Missbrauchsvorwürfen in einzelnen Einrichtungen wird bereits seit September ermittelt.
Tätig wurde nur München
Nächste Station: der Verein "SOS-Kinderdorf weltweit" mit Sitz in München (siehe Glossar unten). Dort hat der ISC-Bericht bereits 2023 die Alarmglocken schrillen lassen – und man tat das Richtige: die Strafverfolgungsbehörden informieren.
Hermann Gmeiner
hat SOS-Kinderdorf 1949 in Imst, Tirol, gegründet; es folgten Kinderdörfer in anderen Ländern Europas und weltweit. 1965 gründete Gmeiner dann den Dachverband SOS-Kinderdorf International und diverse Fördervereine – darunter die Hermann-Gmeiner-Stiftung in München, die nun "SOS-Kinderdorf weltweit" heißt. Diese betreut rund 3.000 Projekte weltweit.
Helmut Kutin
übernahm 1985 die Präsidentschaft von Gmeiner, der ein Jahr später starb. Unter Kutin wurden weltweit rund 300 Kinderdörfer gebaut. 2012 wurde er abgelöst, blieb aber Vorstandsvorsitzender des Fördervereins in München und Ehrenpräsident des Ländervereins in Österreich. 2024 starb Kutin in Thailand.
SOS-Kinderdorf Österreich
ist der Ur-Verein, er betreut als Landesorganisation sowohl Projekte in Österreich als auch in 137 Ländern der Welt. Einen Präsidenten gibt es nicht mehr, die Geschäftsführung besteht aktuell aus Annemarie Schlack, Nora Deinhammer und Carolin Porcham. Der sechsköpfige Aufsichtsrat wird am 20. November neu gewählt.
Der Umstand, dass ein Großspender aus Niederösterreich mehrere Buben in Nepal sexuell missbraucht haben soll, war 2021 bereits in St. Pölten angezeigt worden. Die Münchner nahmen auf Basis des ISC-Berichts aber den langjährigen Präsidenten Helmut Kutin in den Fokus, der dem Großspender Zugang zu den Kindern ermöglicht haben soll.
Der Münchner Verein hatte zumindest Einsicht in die 991-seitige Langfassung und sah sich aufgrund der Untersuchungsergebnisse dazu verpflichtet, „frühzeitig auf die Strafbehörden zuzugehen“, wie Andreas Minkoff von der Anwaltskanzlei Feige Graf erklärt.
Man habe selbst „keine rechtliche Würdigung“ vorgenommen und auch keine Strafanzeige erstattet. Aber da Kutin über Jahrzehnte hinweg auch im Münchner Verein „Organstellung“ hatte, sei nicht auszuschließen gewesen, „dass es auch in dieser Funktion zu Pflichtverletzungen gekommen ist“.
In St. Pölten endeten die Ermittlungen gegen den Großspender mit dessen Tod im August 2022. In München wurde der Akt zu Kutin im April 2024 geschlossen, als auch dieser starb.
"SOS-Kinderdorf weltweit" zog schon zuvor Konsequenzen: Der Verein warf Kutin noch 2023 hinaus und erkannte ihm die Ehrenpräsidentschaft ab. Darüber habe man laut einer Stellungnahme „sowohl unsere Dachorganisation als auch SOS-Kinderdorf Österreich umgehend informiert“.
Der Landesverein tat nichts, während der Dachverband ihm 2023 immerhin die Ehrenpräsidentschaft aberkannte. Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden nahm man offenkundig – anders als die Kollegen in Bayern – nicht auf. Laut KURIER-Informationen wurde in Österreich nie gegen den ehemaligen Präsidenten ermittelt.
Behörden unterstützen
Bei "SOS-Kinderdorf International" wird betont, dass man die Erkenntnisse im ISC-Bericht „mit äußerster Ernsthaftigkeit“ behandle und darauf hingewiesen, dass die Organisation in den vergangenen Jahren grundlegend reformiert worden sei.
Alle Mitgliedsvereine seien verpflichtet, „alle zuständigen Behörden über Vorwürfe zu informieren und sich nach besten Kräften zu bemühen, jede von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Gericht beschlossene Untersuchung zu unterstützen“. Ob dieser Grundsatz auch für den Dachverband gilt, wird sich erst jetzt zeigen.
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