Sloterdijk: "Die falsche Unendlichkeit der Brennstoffe"
KURIER: In Ihrem Buch „Die Reue des Prometheus“ sagen Sie, Prometheus würde es heute, angesichts der Klimakrise bereuen, den Menschen das Feuer gebracht zu haben. Nun steht aber die Tat des Prometheus mythologisch gesehen an der Wiege von Zivilisation und Aufklärung. Ist Ihr Buch demnach eine Abkehr davon?
Peter Sloterdijk: Nein, im Gegenteil. Zivilisation und Aufklärung sind unbedingt wertvoll, solange sie sich innerhalb bestimmter Maßverhältnisse vollziehen. Mit dem modernen pyrotechnischen Titanismus wird aber eine pseudo-rationale Revolte gegen die Vorstellung des Maßes vollzogen. In der klassischen oder vormodernen Welt sind Brennstoffe knapp, Holz ist ein langsamwüchsiges Gut. Und dass man jedes Holzscheit nur einmal verbrennen kann, liefert das Axiom der maßvollen Energie-Vernunft. Nachdem aber die Menschen seit dem 18. Jahrhundert mittels der Kohle und vom 20. Jahrhundert an durch Erdöl und Gas eine Art falsche Unendlichkeit von Brennstoff in die Zivilisation eingeschleust haben, sieht Prometheus den Vertrag, den er mit den Menschen geschlossen hatte, gebrochen.
Lässt sich denn so genau sagen, ab welchem Punkt das Zivilisationsprojekt gekippt ist?
Auf Tag und Stunde sicher nicht. Doch mit dem Aufkommen der modernen Schwerindustrie ist ganz entschieden eine Schwelle überschritten worden, an der die Gefährdungspotenziale die nützlichen zu überwiegen begannen. Mit ihr kommt überdies die moderne Artillerie auf – die beruht auf dem ur-bösen Gedanken der Brandstiftung aus der Ferne, allgemeiner gesprochen: der Schadenstiftung aus der Ferne.
Ungeachtet dessen ist das, was wir heute als westliches oder europäisches Lebensmodell schätzen, nicht denkbar ohne die großen Umwälzungen ab dem 19. Jahrhundert, Stichwort industrielle Revolution. Sie plädieren in dem Buch dafür, Megacitys und große Staaten zu redimensionieren. Geht es aus Ihrer Sicht also insgesamt um ein gigantisches Redimensionierungsprojekt bzw. eine Art Rückabwicklung?
Ich bin sicher, dass alle diese Überdehnungsgebilde, die wir aus der Zeit des Feudalismus und der imperialen monarchischen Staaten und ihrer Kolonien geerbt haben, im Lauf der nächsten Jahrhunderte reformatiert werden müssen. Das gilt besonders für Russland, China, Indien, Brasilien, Indonesien etc. aber auch für die USA und einige noch immer stark überdehnte europäische Staaten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Das alles liegt in weiter Zukunft – doch es ist wichtig, uns heute schon bewusst zu machen, dass wir nicht dazu verurteilt sind, für immer an Unhaltbarem festzuhalten. Genau das ist die heimliche Logik des heutigen Staatshandelns: Zufällig Bestehendes um alles in der Welt zu erhalten. Ohne Zweifel wird es lange dauern, bis so etwas wie eine neue Formatvernunft zur Geltung kommt, aber die Ära des Formatwahns kann nicht endlos dauern.
Sind Sie pessimistischer geworden? Ich kann mich an ein Interview erinnern, in dem Sie vor „miserabilistischen Zuschreibungen“ gewarnt haben; Sie forderten, die Politik müsse die „selbsthelferischen Kräfte“ des Menschen stärken …
Nun ja, das ist gar kein Widerspruch. Nur in kleineren zivilisatorischen Einheiten können selbsthelferische Kräfte sich optimal entfalten, und nur so lässt sich im größeren Ganzen eine sinnvolle Zukunft denken. Darum muss man gegenüber Projekten der Großtechnologie skeptisch bleiben. Es gibt einen Teufelspakt zwischen der Großtechnologie und dem Großstaat. In Frankreich hat der Absolutismus in Form von Zentralismus und Atomstrom überlebt, in China regiert heute ein nuklear-fossiles Kaisertum.
Selbst wenn eine gewisse Rückabwicklung notwendig wäre – halten Sie das Projekt für realistisch?
Das ist eben bis auf weiteres unser Dilemma. Die konsumistisch ermächtigten Menschen unserer Weltgegend werden eher alles kurz und klein schlagen, als sich mit dem Imperativ der Rückkehr zu maßvollen Proportionen anzufreunden.
Ist der Mensch nicht per se maßlos?
„Gibt es auf Erden ein Maß?“ fragt Hölderlin. Es gibt keines, sagt er. Das Ausbrechen aus den Maßverhältnissen liegt in der Natur der menschlichen Begehrensmechanismen. Deswegen haben die Menschen in alter Zeit immer ein dämpfendes Element oder eine herrschaftliche Zügelung gebraucht. Wenn das wegfällt, kommen verwildernde Tendenzen obenauf. Früher wirkte die Natur als solche als maßsetzende Größe. Wenn sie auch an manchen Orten freigiebig zu sein schien, war sie doch insgesamt eine karge Größe. Die physis von homo sapiens ist auf chronische Unterernährung besser vorbereitet als auf Überernährung. Die Knappheit hat als maßsetzende Grenze gewirkt. Aber mit der falschen Unendlichkeit der fossilen Brennstoffe ist ein Überdehnungsprozess in Gang gesetzt worden, von dessen Fernwirkungen man sich noch keinen Begriff machen kann. Dass heute jeder Zweite auf der Erde übergewichtig wurde, ist nur ein Indiz.
Wie lässt der Prozess der Überdehnung sich beschreiben?
Ich schlage zur Verdeutlichung ein vereinfachendes Schema vor. Das Problem der modernisierenden Gesellschaften entsteht dadurch, dass zuerst die Bourgeoisie den Adel nachahmt und dann die Arbeiter- und Angestelltenwelt die Bourgeoisie. Die Orientierung aller an der nächsthöheren Stufe des Luxus bei Mobilität, Tafelfreuden, Sexualität, Wohnen und Bädern löst die Zivilisationsdynamik aus, in der wir uns bewegen, doch wir können uns in ihr nur bewegen, seit das ungeheure Surplus der fossilen Energien in unsere Lebenswelten einströmt. Die Illusion, wonach es ein Naturrecht auf Luxus gebe, wird durch die scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit von Mehrenergien hervorgerufen. Dass es eine Illusion ist, spricht sich langsam herum.
Wir erleben seit anderthalb Jahrzehnten eine Reihe von Krisen – etwa die Finanz- oder die Migrationskrise. Ist die Klimakrise noch einmal von höherer Dimension?
Sie erfährt eine Sonderstellung unter der Voraussetzung, dass sie die Migrationsgründe verschärft. Schon jetzt gibt es, bedingt durch das Wohlstandsgefälle, einen starken Migrationssog von den ärmeren Weltgegenden zu den wohlhabenderen hin. Viele sprechen zu Recht von der Multikrise, man macht sich Gedanken darüber, wie die einzelnen Krisenkreise miteinander verzahnt sind. Die kritische Stelle, an der zwei der größten Zahnräder ineinandergreifen, wäre das Unbewohnbarwerden mancher Weltgegenden durch einen irreversiblen Klimawandel, sei es durch Überschwemmungen, sei es durch Austrocknungen.
Wie soll Europa mit dem Migrationssog umgehen? Die Frage hat ja neben vielen anderen auch eine kulturelle Dimension, die viel politischen Sprengstoff birgt: Wie viel Migration verträgt Europa, um es selbst zu bleiben?
Wir sehen bei den klassischen Einwanderungsländern Australien, Neuseeland, USA, Kanada, wie man dort Aspekte der Qualifikation, der Kompatibilität mit dem Bestand und der günstigen Mischung in den Mittelpunkt rückt. Diese Länder praktizieren etwas, das man Qualitätseinwanderung nennen könnte. Naturgemäß profitieren sie auch vom Braindrain aus anderen Ländern.
Soll sich Europa an diesem Modell orientieren?
Fürs Erste ja. Doch auf die Frage, wie wir mit Elends-, Kriegs- und Katastrophenfluchtbewegungen umgehen sollen, liefert das keine Antwort.
Diese Fluchtbewegungen bergen ja das größte Konfliktpotenzial …
Man wird sehr vorsichtig umgehen müssen bei Einwanderungen aus Gegenden mit ausgeprägten patriarchalischen Traditionen und entsprechenden Vorstellungen hinsichtlich der Geschlechterrollen. Letztlich wird man den Begriff der Grenze wieder positiver deuten müssen – und das ist etwas, was dem liberalen und anarchoiden Geist des modernen Europas wehtut. Man wird an Grenzen ihre Membranqualitäten schätzen lernen – Membrane sind Organe, die ihre Durchlässigkeit selbst regeln. Mit abstrakt universalistischen Antworten kommt man nicht mehr weiter. Man könnte das die eigentliche mentale Tragödie Europas nennen: Der von Europa ausgehende Universalismus besiegt sich selber, indem er sich Aufgaben stellt, die er nicht lösen kann.
Während wir mit diesen Krisen kämpfen, sind wir schon mitten in der nächsten Disruption: der rasanten Entwicklung der KI. Was sagt der Philosoph dazu?
Philosophen sind wohl die Leute, die am wenigsten Probleme damit haben oder besser, die sich inmitten der nun auftauchenden Probleme am ehesten wohl fühlen. Denn jetzt endlich wird alle Welt daran erinnert, dass bisher niemand so recht wusste, was Intelligenz eigentlich ist. In dem Maße, in dem man mit künstlicher die sogenannte natürliche Intelligenz simuliert, ist man herausgefordert zu sagen, was man meint, wenn von Intelligenz die Rede ist. Es liegt eine neue große Kränkung in der Luft: Die meisten Beiträge zum Thema beginnen ja mit der Verteidigung der guten alten humanen Psyche – die kann Dinge, die die Maschinen noch nicht können. Witzigerweise sieht man sich in einer Konkurrenzsituation, und man möchte das Singulare an der natürlichen Intelligenz verteidigen. Wobei man allerdings vergisst, dass die menschliche Seite der natürlichen Intelligenz ihrerseits bereits weitgehend auf künstlichen Intelligenzen beruht: Sprachen und Schriften wachsen ja nicht auf Sträuchern am Wegrand. Vermutlich wird man irgendwann zu dem Schluss kommen, dass alles, was es in der Natur gibt, auf irgendeine Weise aus Intelligenz besteht. Alles und jedes, was wächst, umweltsensibel ist und sich fortpflanzt, macht von Verkörperungen der Intelligenz Gebrauch.
Die Sorge geht dahin, dass sich diese KI einmal gegen uns selbst wenden könnte.
Damit wird eine Vorstellung aus der Sphäre der Mikroben auf die der mutierenden Computerprogramme übertragen. Es ist wahr, die sogenannte natürliche Intelligenz produziert schon jetzt in verborgenen Cyber-Kriegen eine Unmenge an schadenstiftender Software, von der man sich vorstellen könnte, wie sie sich zu künstlichen Epidemien entwickelt. Es ist aber mit der KI wie mit der einfachen oder der nuklearen Artillerie: Wer Schadenswirkungen in die Ferne projiziert, begegnet früher oder später der eigenen Bösartigkeit und der eigenen Angst.
Hat die Vorstellung für Sie etwas Bedrohliches, dass es einmal etwas oder jemanden geben könnte, der so spricht und denkt wie Peter Sloterdijk, es aber nicht ist?
Bisher habe ich mich selber als meine private künstliche Intelligenz trainiert und die persona dieses Namens kultiviert. Ich sehe keinen Grund, warum jemand außer mir dieser undankbaren Aufgabe nachgehen sollte. Genau betrachtet, ist ja schon der eine Sloterdijk zu viel.
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