Expertin Kohlenberger: "Migration verschwindet nicht so einfach"

In Sizilien gelandet: aus Seenot gerettete Migranten
Die Asylzahlen sinken, aber der Migrationsdruck bleibt hoch, sagt Expertin Judith Kohlenberger und zweifelt, dass Ruanda Asylstandards schafft, die schon Griechenland nicht hinbekommt.

Die im Vorjahr sprunghaft gestiegenen Asylzahlen haben Österreich alarmiert –  das ewige Streitthema Migration steht deshalb am Donnerstag und Freitag wieder im Zentrum eines EU-Sondergipfels in Brüssel. Wie schätzt die österreichische Migrationsexpertin Judith Kohlenberger die dort vorliegenden Vorschläge ein?

KURIER: Im Vorjahr ist die  Zahl der Asylanträge in Österreich  stark gestiegen - auf knapp 108.000. Wird das heuer so weitergehen?
Judith Kohlenberger: Wir sehen schon jetzt im Vergleich zum Höchststand im Herbst einen  Rückgang der Zahlen. Das hat einerseits mit typischen saisonalen Effekten zu tun, andererseits mit der Politik Serbiens, das die Visafreiheit für Einreisende aus Tunesien und Indien gestoppt hat.

Und viele, die im Vorjahr in Österreich angekommen sind, waren vorher schon Monate oder Jahre in Griechenland oder auf der Balkanroute unterwegs. Da hat sich  im Vorjahr ein gewisser Rückstau abgebaut. Solch hohe Zahlen wie im Herbst werden wir also wohl nicht mehr haben.

Wird der Rückgang nachhaltig sein?
Der Migrationsdruck aus den Herkunftsländern verschwindet nicht einfach. Und die Krisen und Kriege dieser Welt sind auch nicht weit entfernt, das spürt auch Europa.

Wer es nach Europa schafft, bleibt in vier von fünf Fällen. Warum ist es so schwierig, abgewiesene Asylwerber zurückzuführen?
Das hängt nicht nur von Rückkehrabkommen mit den Herkunftsländern ab, sondern auch von der Durchsetzbarkeit dieser Abkommen. Generell sind viele der bestehenden Regelungen im Bereich Asyl nicht schlecht, in der Theorie müssten sie also funktionieren. Aber dass sie oft nicht durchsetzbar sind, liegt zum Teil an den europäischen Ländern – siehe Orbans Ungarn –  oder  an den Herkunftsländern.

Was ich jetzt vor dem EU-Gipfel aus den Vorschlägen herauslese, ist, dass man zunehmend Entwicklungshilfen an die Migrationspolitik koppeln will.

Expertin Kohlenberger: "Migration verschwindet nicht so einfach"

Migrationsexpertin Judith Kohlenberger

Nach dem Motto: Wenn die Länder es nicht schaffen, ihre Bürger zurückzuhalten oder wieder zurückzunehmen, dann drohen Sanktionen – bei Visa, beim Handel, bei Hilfen. Aber das ist zu kurz gedacht: Denn  die wirtschaftliche Entwicklung in den afrikanischen Ländern liegt auch im Interesse Europas. Wenn man Sanktionen setzt,  könnte auch wieder die Armut steigen – und damit wieder der Emigrationsdruck.
.
Würde besserer  Schutz der EU-Außengrenzen die Migrationszahlen senken?
Das Schlagwort Außengrenzschutz ist fast zu einer hohlen Schablone geworden. Was ist damit konkret gemeint? Sind das Zäune, die vielleicht sogar noch unter Strom gesetzt werden? Oder heißt es, Zurückweisungen zu legalisieren?

Oder bedeutet es, dass Ankommende noch an der Außengrenze registriert und identifiziert werden, damit man möglichst rasch unterscheiden kann: Asyl oder Migration? Außengrenzschutz muss auf jeden Fall auf Basis der geltenden Grund- und Freiheitsrechte passieren. Das kann  also nicht bedeuten, dass man push backs legalisiert.

Aber wer Außengrenzschutz sagt, muss gleichzeitig auch sagen, dass es legale Zugangswege geben soll.  Wir  wissen aus der Forschung, dass man irreguläre Migration nachhaltig nur dann
senken kann, wenn man gleichzeitig mehr Zugänge zu regulärer Migration schafft. Migration verschwindet ja nicht so einfach. Man kann sie nur bis zu einem gewissen Grad steuern, indem man auch reguläre, legale Wege zulässt–  für Arbeitsmigranten und für Flüchtlinge.

Was kann Österreich konkret tun, um geringere Asylzahlen zu haben?
Es gibt einen ganz banalen Grund, warum Österreich im Vorjahr Spitzenreiter bei den Asylansuchen pro Kopf in Europa war: Das ist die geografische Lage verbunden mit der Tatsache, dass Flüchtlinge zuvor   mehrere Länder durchquert haben, ohne sich registrieren zu lassen. Weil manche Ländern – siehe Ungarn –gar nicht zulassen, dass Asylanträge gestellt werden. 

Hier sollte man den Druck auch gegen jene europäischen Länder erhöhen, die geltendes Asylrecht und die EU-Aufnahmerichtlinie verletzen. Österreich bekommt als erstes Land die Folgen dieser Vertragsverletzungen zu spüren.

Sollte also Österreich Ungarn verklagen?
Ich würde eher  empfehlen, auf europäischer Ebene stärker darauf einzuwirken, dass geltendes Recht eingehalten wird. Österreich könnte aber innerhalb des europäischen Konzerts  der EU-27 mehr Druck machen.

Neben Ungarn wäre da auch Griechenland ein Kandidat für ein Vertragsverletzungsverfahren. Dort werden die Aufnahmestandards massiv nach unten nivelliert, was dazu führte, dass viele Flüchtlinge, die dort schon anerkannt waren, sich auf eigene Faust über die Balkanroute auf den Weg gemacht haben: Sie konnten es dort nicht mehr aushalten. Und diese Flüchtlinge treffen dann auch in Österreich ein.

Wie realistisch die Forderung, Asylzentren in Drittstaaten zu schaffen?
Geht es darum, Menschen, die schon in der EU angekommen sind, wieder in einen Drittstaat zu bringen, damit dort ihr Asylverfahren abgewickelt wird? Das ist in dieser Form rechtlich nicht möglich und würde einer Änderung des Europarechts bedürfen.

Eine andere Idee ist: Die Menschen kommen erst gar nicht  nach Europa, sondern stellen ihren Asylantrag  in Drittstaaten in eigenen Asylzentren. Aber was würde die Menschen daran hindern, sich nicht trotzdem auf den Weg zu machen?  Und in die Boote übers Mittelmeer zu steigen? Wohl nur der Einsatz von Gewalt.

Und ein dritter Aspekt, warum ich skeptisch bin:  In Griechenland schafft man es jetzt schon nicht, Asylstandards einzuhalten. Aber in Ruanda würde man es schaffen?

Expertin Kohlenberger: "Migration verschwindet nicht so einfach"

Othmar Karas, Vizepräsident des EU-Parlaments, und Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der WU Wien, legen gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Politik und Wissenschaft Vorschläge zur Lösung der Migrationskrise vor. Auf pragmatischem Weg soll gezeigt werden, wie sich Zuwanderung und Flucht in einer den Menschenrechten verpflichteten Demokratie organisieren lassen.

25 Autorinnen und Autoren haben Ideen und Beiträge geliefert von Irmgard Griss bis Katharina Stemberger, von Gerald Knaus bis Rainer Münz, von Christoph Riedl bis Ruth Wodak und von Innsbrucks Diözesanbischof Hermann Glettler bis zu EU-Kommissions-Vizepräsident Margaritis Schinas. 

Kommentare