Schweizer Botschafterin: "Eigenverantwortung ist systemrelevant für uns"
Salome Meyer ist seit einem halben Jahr Botschafterin in Österreich. Ein Gespräch anlässlich des heutigen Schweizer Nationalfeiertags im Garten der Schweizer Residenz unweit des Palais Schwarzenberg in Wien.
KURIER: Die Wiener gelten als unfreundlichste Bevölkerung der Welt. Hatten Sie schon unerfreuliche Begegnungen?
Salome Meyer: Ich warte noch auf mein erstes: „Schleich di“ (lacht). Nein, ich empfinde Wien als eine sehr offene, freundliche Stadt.
Die Schweiz hat so wie Österreich das Luftabwehrsystem Sky Shield unterschrieben. Ist es nicht erstaunlich, dass sich diese so unterschiedlichen Länder in einer Art Sicherheitskoalition befinden?
Das ist kein Militärbündnis, sondern eine Initiative, um sich in Sachen Luftabwehr zu koordinieren – bei Beschaffung, Ausbildung, Logistik. Die Befehlsgewalten bleiben national. Als neutrale Staaten müssen wir uns auch im Luftraum verteidigen können. Wir investieren viel in den nächsten Jahren: etwa in Kampfflugzeuge F 35 oder neue bodengestützte Luftverteidigungssysteme.
Wie neutral ist die Schweiz im Krieg in der Ukraine?
Es kann von uns keine militärische Unterstützung für kriegsführende Parteien geben. Aber ansonsten zitiere ich gerne Ihren Bundeskanzler: „Neutralität heißt nicht Gleichgültigkeit.“ Die Völkerrechtsverletzung von Russland gegenüber der Ukraine wurde auch von der Schweizer Regierung sehr deutlich verurteilt. Wir unterstützen die Ukraine humanitär: beim Wiederaufbau mit Finanzhilfe und mit Flüchtlingshilfe.
Stimmt es, dass Putins Geliebte in der Schweiz lebt?
Unser Justizministerium hat das abgeklärt und keine Hinweise darauf gefunden.
Nicht nur für reiche Russen war die Schweiz immer interessant, sie gilt als Steueroase. Wie sehr kämpfen Sie mit diesem Image?
Die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht eine Oase, aber keine Steueroase. Wir setzen alle internationalen Standards im Bereich des automatischen Informationsaustausches in Steuersachen um. Der Finanzplatz Schweiz ist bekannt für seine Zuverlässigkeit und Professionalität.
Wobei der Absturz der einst so stolzen, alten Großbank Credit Suisse gezeigt hat, dass das so vielleicht auch nicht stimmt.
Zugegeben, das war ein Schock. Es gibt jetzt auch eine Untersuchung dazu. Aber die Schweizer Behörden haben schnell und gut reagiert. Die internationalen Finanzmärkte blieben ruhig.
Sind die Schweizer froh, nicht bei der EU zu sein? Beim Alpentransit etwa könnte die Schweiz sonst nie so eine abschreckend hohe Maut verlangen, was den Lkw-Transit unter anderem auf den Brenner nach Österreich verschoben hat.
Die Schweiz ist ein Transitland. Ich war vor Österreich in Kanada. Die Grenzüberquerungen in und aus der Schweiz übersteigen pro Tag bei Weitem die kombinierten Grenzüberschreitungen zwischen den USA und Kanada sowie Mexiko und den USA. Wir haben die großen Lastwagen auf die Schiene verlagert. Die EU-Mitgliedschaft wäre in der Schweiz nicht mehrheitsfähig.
Warum?
Wir haben mit der EU einen gut funktionierenden bilateralen Weg. Eine EU-Mitgliedschaft wäre mit unserem System der direkten Demokratie aber nicht vereinbar. Und die ist uns sehr wichtig.
Interessanterweise gab es ja eine Schweizer Volksabstimmung, wo eine Obergrenze für Zuwanderung mit über 60 Prozent abgelehnt wurde.
Es war ein Signal, dass die Personenfreizügigkeit – und darum ging es bei dieser Befragung – viel Unterstützung hat. Von dieser Freizügigkeit profitiert Europa, profitieren auch wir. Die Schweiz ist ein offenes Land. Zehn Prozent der Schweizer leben im Ausland, die Mobilität ist sehr hoch, auch innerhalb des Landes.
Was eint und was trennt Österreich und die Schweiz?
Es ist sehr viel Verständnis füreinander da. Speziell Wien versteht sich als nach Osteuropa gerichtet, während die Schweiz in den Westen schaut. Die Österreicher geben viel aus für Freizeit und Vergnügen. Diese Genussfreude scheint mir eine sehr österreichische Qualität zu sein. Da gibt es schon kulturelle Unterschiede zur Schweiz. Aus historischen Gründen hat Österreich ein stärkeres Verständnis für Obrigkeiten. Ein Kollege hat mir einmal gesagt: „Österreich ist die monarchischste Republik und Holland die republikanischste Monarchie“. Die Parteien spielen in Österreich eine viel größere Rolle – über das Parlament hinaus. Die Steuerhoheit der Kantone unterscheidet uns auch stark von Österreich. Da kann sich jeder Kanton in seinen Stärken manifestieren, hat dann aber wirkliche Verantwortung, die er nicht einfach an Bern zurückdelegieren kann.
Die Schweizer erwarten viel weniger vom Staat als die Österreicher. Eigenverantwortung ist wohl einer der höchsten Werte in der Schweiz, oder?
Ja, ich würde sogar behaupten, das ist systemrelevant für uns. Wir stimmen über alles ab, und es wird erwartet, dass die Bürgerin, der Bürger in Eigenverantwortung am politischen Entscheidungsprozess mitmacht. Eigenverantwortung darf aber nicht Egoismus sein, sondern muss auch eine Solidarleistung sein.
Es heißt ja immer, dass Zürich doppelt so groß, aber nur halb so lustig wie der Wiener Zentralfriedhof ist.
Das habe ich noch nicht gehört, aber es gefällt mir
(lacht). Die Kunst des Schmähs geht uns Schweizern wahrscheinlich schon ein bisschen ab.
- Salome Meyer: Die fünfzigjährige Diplomatin ist seit 2022 in Wien, davor vertrat sie die Schweiz in Kanada und auf den Bahamas
- Schweiz: Mit 8,7 Millionen Einwohnern ist die Schweiz mit Österreich vergleichbar - sonst aber nicht. Die 26 Kantone haben autonome Entscheidungsbefugnis – etwa in der Steuerpolitik. Per Referendum werden die Bürger stark einbezogen. Der Staat ist „genossenschaftlich“ organisiert. Die Bundesregierung ist der Bundesrat, bestehend aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern
Finde ich nicht. Immer wenn ich Schweizer treffe, sind die humorvoller als erwartet.
Das freut mich! Ich glaube, die Schweiz wird immer ein wenig als „humorneutral“ betrachtet. Wir haben aber eine Art bauernschlauen, subversiven Humor. Dabei sind wir meist selbst das Objekt unseres eigenen Humors – außer bei den Österreichern. In meiner Kindheit waren die Österreicherwitze sehr beliebt.
Schweizer Weine sind überraschend gut. Werden die nicht unterverkauft?
Nein, weil wir trinken ihn selbst. Die Produktionsmengen sind ja nicht so hoch, daher haben wir keine großen Exportmengen.
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