Stimmt der jetzt wieder häufiger zitierte Satz (noch) "Not lehrt beten"?
Ja, der stimmt. Aber ich würde ihn unbedingt ergänzen um "Freude lehrt beten". Ich bin sicher, dass Menschen in diesen Tagen wegen der Pandemie vermehrt beten, aber ich glaube auch, dass die wiedererwachende Natur, der blaue Himmel, Freude an der Schöpfung Grund zum Beten sind.
Es gibt Kritik, dass sich Kirche allzuschnell den staatlichen Anordnungen gefügt hat. Früher waren die Kirchen gerade in Notzeiten voll, jetzt sind sie geschlossen, heißt es – oder: die Baumärkte sperren auf, die Kirchen sind zu …
Erstens sind die Kirchen nicht geschlossen. Sie stehen offen für das persönliche Gebet. Zweitens aber: die staatlichen Maßnahmen sind keine Willkürmaßnahmen, sondern haben mit konkreter Nächstenliebe zu tun. Und die Nächstenliebe ist untrennbar mit der Gottesliebe verbunden. Wir haben es ja vor Augen, wie es in anderen Ländern aussieht. Die jetzt getroffenen Maßnahmen sind der sicherste Weg, dass die Pandemie möglichst bald vorbeigeht und wir ein normales Leben führen können. Den Kritikern möchte ich auch das Jesuswort in Erinnerung rufen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Gott ist auch in einer Familie, die gemeinsam zu Hause betet, gegenwärtig; bei den Ärzten, die um das Leben der Kranken kämpfen. Gottesdienst besteht auch darin, dem Nächsten so gut es geht zu helfen.
Sie sagen, die Kirchen sind offen. Aber die Kirchen sind ja gerade während der Gottesdienste versperrt …
Ja, wir haben das so geregelt. Aber es sind auch in normalen Zeiten 700.000 Österreicher, die über Radio und TV am Gottesdienst teilnehmen – dazu gehört auch meine fast hundertjährige Mutter. Ich wehre mich entschieden dagegen zu sagen, diese Menschen nähmen nicht wirklich teil.
Aber wäre nicht trotzdem eine Teilnahme an den Osterliturgien unter restriktiven Bedingungen – limitierte Besucherzahl, Abstände, Schutzmasken etc. – möglich gewesen?
Wir haben das sehr genau mit der Regierung besprochen. Die große Sorge ist, dass gerade über
Ostern durch viele Kontakte eine neue Ansteckungswelle kommt. Das gilt es zu verhindern, damit danach behutsam eine Öffnung stattfinden kann – bei den Geschäften, Betrieben, und natürlich auch bei den Gottesdiensten. Daher werden wir Bischöfe in der nächsten Woche einen Stufenplan präsentieren, analog zu dem in der Wirtschaft, wie wir wieder zu einem regulären Gottesdienstbesuch kommen. Aber das wird auch in der Kirche zunächst mit sehr großen Sicherheitsauflagen verbunden sein.
Könnte es also bereits wieder eine Fronleichnamsprozession geben – nach der ausgefallenen Palmsonntagsprozession?
Das glaube ich nicht, dass das schon möglich sein wird. Aber wir werden das alles in Absprache mit den Behörden prüfen und entscheiden. Wichtig ist, dass wir jetzt diese Phase mit großer Disziplin durchhalten. Wir werden sicher keine voreiligen Schritte setzen.
Die Bilder des einsamen Papstes auf dem Petersplatz mit dem Segen "Urbi et orbi" sind um die Welt gegangen und haben bei vielen tiefen Eindruck hinterlassen. Der deutsche Theologe Magnus Striet hat kritisiert, dass damit ein "vormodernes Weltbild" befördert werde; die Pandemie werde "durch medizinischen Fortschritt bekämpft, aber nicht durch ein Bittgebet". Was antworten Sie ihm?
Ich würde ihm antworten, dass er das 19. Jahrhundert hinter sich lassen und daran erinnern soll, dass es im 21. Jahrhundert für jeden Theologen und natürlich auch für den Papst selbstverständlich ist, Glauben und Wissen nicht gegeneinander auszuspielen. Natürlich warten und hoffen wir alle auf Ergebnisse der Forschung zur Eindämmung des Coronavirus. Und natürlich sind wir dankbar, dass es diese Forschung gibt. Gott hat dem Menschen den Verstand und den Willen gegeben, damit der Verantwortung übernimmt. Diese Verantwortung haben die Menschen auch in der Pestzeit – mit einem viel geringeren Wissen – übernommen, indem sie strenge Quarantänemaßnahmen gesetzt haben. Heute haben wir zum Glück ein viel größeres Wissen und die Möglichkeiten der medizinischen Forschung. Das aber gegen den Glauben auszuspielen, ist einfach ein Unsinn. Wenn jemand erkrankt, sucht man selbstverständlich den Arzt auf – aber man macht sich auch menschlich Sorgen und stellt sich die Frage, was denn da passiert. Und da ist der Glaube die stärkste Ressource zur Sinnfindung und zum Durchstehen. Woher nehmen wir die Hoffnung? Die kommt nicht von den Zukunftsforschern.
Auch jenseits dieser Krise kämpft die Kirche als Institution mit dem Verlust von Ansehen und Einfluss. Worin wurzelt das Ihrer Meinung nach? Manche meinen, weil die Kirche zu wenig reformbereit sei, die strukturelle Dimension des Missbrauchsthemas etwa nicht erkannt habe; andere, dass sie sich zu sehr dem Zeitgeist angepasst habe, ihre Lehre nicht mehr klar und mutig genug vertrete, wie eine NGO agiere …
Sie sagen zurecht Institution. Es gibt generell einen starken Imageverlust der Institutionen – das ist ein Zug der Zeit. Es ist aber interessant, dass in Krisenzeiten Institutionen wieder wichtiger werden. Wir merken, dass die Sozialpartnerschaft doch etwas Gutes ist, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern; dass es ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt. Und in diesem Zusammenhang spüren viele Menschen auch, dass es gut ist, dass wir dieses Netzwerk von 3.000 Pfarren in
Österreich haben, in denen sehr viel konkrete, praktische Solidarität gelebt wird.
Aber welcher Stoßrichtung der Kritik können Sie mehr abgewinnen?
Es haben beide Seiten einen Teil der Wahrheit: Natürlich besteht die Gefahr, dass sich die Kirche säkularisiert und damit ihre Kernaufgabe verfehlt. Es geht um den Glauben: "Wer glaubt, ist nie allein", hat Papst Benedikt gesagt. Ohne den Glauben ist die Kirche nicht relevant. Andererseits: eine Kirche, die sich nicht weiterzuentwickeln bereit ist, ist keine Kirche, die nach dem Evangelium lebt.
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat in einer Rede einmal gesagt,
Europa könne nur dann gerettet werden, wenn es "zur Quelle seiner wahren Werte zurückkehrt: seiner christlichen Identität". Stimmen Sie ihm zu?
Die Frage ist, was "christliche Identität" heißt.
Was heißt es für Sie?
Dort, wo Menschen glaubwürdig das Evangelium leben, dort ist christliche Identität. Das hat immer auch eine kultur- und gesellschaftsprägende Kraft. Die Rede vom christlichen Europa ist sehr schön, aber man muss immer fragen, was damit gemeint ist. Wenn ich die Ärzte und Schwestern sehe, die in Italien einen unglaublichen Einsatz leisten – das ist ein Stück christliches Europa. Auch die Flüchtlingsfrage gehört hierher. Die Flüchtlinge in ihrer Not zu sehen, ist Kernauftrag des Evangeliums. Wir dürfen über der Corona-Krise nicht vergessen, dass es Menschen gibt, die als Flüchtlinge in äußerst dramatischen Situationen leben müssen.
Es gibt allerdings viele Menschen, darunter nicht wenige Christen, die sich angesichts der Migrationsbewegungen große Sorgen machen, nicht zuletzt um die christliche Prägung Europas, bezüglich damit verbundener sozialer, ökonomischer und kultureller Verwerfungen. Haben Sie dafür Verständnis?
Natürlich habe ich dafür Verständnis. Aber Österreich hat etwa in der ersten großen Syrien-Krise, noch vor 2015, in sehr vorbildlicher Weise ein Resettlement-Programm gemacht – da sind 2.500 besonders vulnerable Personen mit Hilfe des UNHCR und der Kirchen nach Österreich gekommen. Die aktuelle Bitte, jetzt besonders schutzbedürftige unbegleitete Minderjährige aufzunehmen – da geht es nicht um große Zahlen – wäre auch erfüllbar. Not lehrt beten – Not lehrt aber auch, die Not der anderen zu sehen; die eigene Not darf uns nicht die der anderen vergessen lassen.
Dass man die Not sehen soll, ist unbestritten – die Frage, an der sich die Geister scheiden, ist ja, welche Schlüsse man daraus zieht. So wie es etwa auch klar ist, dass Armut zu bekämpfen ist, aber über das Wie gibt es unterschiedliche politische Vorstellungen …
Wir müssen nicht die Welt retten. Aber wir sind hin und wieder gefordert, einem Nachbarn, dem es schlecht geht, das Essen zu bringen oder eben auch dann zu helfen, wenn wir selber in Schwierigkeiten sind. Ich erinnere auch daran, wie ich als Baby 1945 nach Österreich gekommen bin, das damals am Boden lag – und wir sind trotzdem aufgenommen worden.
Sie haben selber vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass die Flüchtlingswellen von 1956 und 1968 nicht mit den gegenwärtigen vergleichbar seien, weil es damals tatsächlich um Nachbarn ging, die aus dem selben christlich geprägten Kulturkreis stammten …
Das sehe ich auch heute noch so. Und ich sage dazu: 2015 darf nicht wieder geschehen. Die von mir angesprochenen unbegleiteten Minderjährigen, um die es zuletzt ging, das ist eine klar umrissene, überschaubare Gruppe – das kann Europa wirklich stemmen.
Im Vorfeld des bevorstehenden 100. Geburtstags Ihrer Mutter hat die Kathpress auch daran erinnert, dass sich Ihre Mutter anlässlich des letzten Konklaves 2013, bei dem Sie auch als papabile galten, sehr skeptisch zu dieser Möglichkeit geäußert hat: "Das wäre nichts für meinen Buben", wurde sie zitiert. Haben Sie sich seither manchmal gedacht, dass sie recht gehabt hat?
Meine Mutter hat das in ihrer unnachahmlich direkten Art so gesagt – und ich glaube, sie hatte völlig recht. Ich bin sehr dankbar, dass wir Papst Franziskus haben, er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit. Und ich bin zuversichtlich, dass das auch in Zukunft so sein wird. Dass Gott die Kirche nicht hängen lässt und auch die Welt nicht. Das ist letztlich der Kern der Osterbotschaft.
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