"Religion eröffnet einen humanen Horizont"

"Religion eröffnet einen humanen Horizont"
Der Theologe Jan-Heiner Tück im Gespräch über Glauben und Kirche in Zeiten der Pandemie.

KURIER: Welche Bedeutung hat es Ihrer Meinung nach, dass es wieder Gottesdienste unter Beteiligung von Gläubigen gibt?

Jan-Heiner Tück: Für die Kirche ist es nach dem epochalen Einschnitt, keine öffentlichen Gottesdienste abhalten zu können, ein erfreuliches Signal. Schritt für Schritt kann nun wieder Normalität einkehren. Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens, die sich um das Wort Gottes versammelt und Eucharistie feiert. Diese körperbasierte Form der Frömmigkeit ist für die katholische Kirche wesentlich, weswegen ich in das allzu euphorische Lob der digitalen Möglichkeiten – so hilfreich diese auch waren – nicht einstimmen kann. Zugleich gibt es jetzt eine Debatte über die Systemrelevanz von Kirche in den säkularisierten Gesellschaften. Gewiss kann sich Kirche über die Caritas zivilgesellschaftlich legitimieren. Aber ich würde davor warnen, Religion auf ihren gesellschaftlichen Nutzen zu reduzieren. Religion unterbricht funktionalistische Imperative, gerade so eröffnet sie oft einen humanen Horizont.

Sehen Sie die Gefahr, dass durch die sogenannten „Geistermessen“ der letzten Wochen einem vorkonziliaren Kirchenbild, einer Reklerikalisierung Vorschub geleistet wurde?

In Zeiten des Lockdown waren die gestreamten Gottesdienste eine gute Möglichkeit für die Gläubigen, am liturgischen Leben zu partizipieren. Die Polemik, die dem Begriff „Geistermessen“ eigen ist, halte ich für deplatziert: weil auch ein Gottesdienst, den ein Priester als Mittler zwischen Gott und den Menschen alleine feiert, Bedeutung für die ganze Kirche hat. Das wird schon in den liturgischen Texten deutlich. Dabei gibt es neben der horizontalen Dimension, welche die jetzt Lebenden umfasst, auch eine vertikale, welche die bereits Verstorbenen im Gedenken einschließt. Ungeachtet dessen fehlt natürlich das, was das Zweite Vatikanum die „tätige Teilnahme“ der Gläubigen nennt.

Lässt sich die Pandemie eigentlich theologisch deuten? Die traditionelle Lesart solcher Phänomene als „Strafe Gottes“ scheint ja weitgehend obsolet zu sein; aber Kardinal Schönborn etwa hat gemeint, Gott wolle uns sehr wohl damit etwas sagen. Könnte man also von „Mahnung“ oder einem „Fingerzeig Gottes“ sprechen?

Das berührt den neuralgischen Punkt. Die Bibel bietet unterschiedliche Deutungsmuster an: Strafe, Prüfung, Erziehung … Diese Muster kann man nicht generalisierend auf die Gesellschaft beziehen. Straftheologische Deutungen, wie sie von prononciert konservativer Seite in die Debatte gebracht wurden, lehne ich daher ab. Es sind auch traditionelle Formen der Frömmigkeit – Bittgebete, Segnungen u.ä. – in die Kritik geraten, man hat hier vom Retrokatholizismus gesprochen. Die Frage ist, was bleibt, wenn man all dies ablehnt. Auf der anderen Seite droht ja die Falle eines Deismus: also die Vorstellung, dass Gott sich nach der Schöpfung zurückgezogen hat und die Welt nun ihren Abläufen überlässt, eine Art Deus emeritus; oder die Falle eines Agnostizismus, der die Frage nach Gott entschieden unentschieden lässt.

Was also dann?

Die Krise hat unser Leben massiv unterbrochen. Ist diese Unterbrechung ein Fingerzeig Gottes? In jedem Fall ist sie Anlass zur Selbstbesinnung. Überdies bietet der Glaube eine Art Medizin gegen das Virus der Angst, das sich bei aller fälligen Gesundheitsvorsorge nun auch auszubreiten beginnt. Er fördert Vertrauen und mahnt zur Besonnenheit. Bei einer theologischen Deutung der Gesamtlage würde ich Zurückhaltung empfehlen. Keiner kann sich eine Interpretationshoheit anmaßen, die letztlich nur Gott zusteht.

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