Psychologie des Rücktritts: Wann es Zeit ist, zu gehen

Der letzte Eindruck zählt.
Den richtigen Zeitpunkt für den freiwilligen Abgang zu finden, erfordert viel Mut - und ist eine Kunst.

Wenn 2016 das Jahr der prominenten Todesfälle war, könnte 2017 als Jahr der Rücktritte in die Annalen eingehen – zumindest für österreichische Verhältnisse. Während heimischen Polit-Akteuren lange das Image des Sesselklebers anhaftete, scheint sich in diesem Jahr eine Trendwende abzuzeichnen: Erst ging NÖ-Landeshauptmann Erwin Pröll. Sein Kollege Josef Pühringer aus OÖ folgte. Mit den freiwilligen Abgängen der Parteichefs Reinhold Mitterlehner (ÖVP) und Eva Glawischnig (Grüne) fand die aktuelle Rücktrittswelle vergangene Woche ihren Höhepunkt.

Psychologie des Rücktritts: Wann es Zeit ist, zu gehen
The leader of the Austrian Green Party, Eva Glawischnig addresses a news conference in Vienna, Austria, May 18, 2017. REUTERS/Leonhard Foeger
Denrichtigen Zeitpunktfür den Abgang zu wählen – noch dazu, wenn damit ein erheblicher Verlust von Macht einhergeht –, ist nicht einfach, weiß Kommunikationstrainerin Regina Maria Jankowitsch. Die Politikwissenschaftlerin coacht Führungspersonen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – unter anderem dann, wenn diese mit einem Rücktritt liebäugeln.

Alarmsignal

"Loslassen fällt den meisten Menschen schwer. Letztlich muss man sich die Frage stellen: Traue ich es mir noch zu, die Inhalte meiner Partei der Öffentlichkeit mit voller Energie ans Herz zu legen? Wenn man am Morgen nicht mehr wie gewohnt in die Gänge kommt, ist das ebenfalls ein Alarmsignal." Zweifelnden Klienten empfiehlt sie, in der Vertraulichkeit ihres Büros eine Rücktrittsrede zu halten. "Oft spüren sie sofort, dass es (noch) nicht passt. Man darf so etwas nicht nur in der Theorie durchdenken." Letztlich sei die Frage des Rücktritts eine psychologische: "Bin ich mir selber und sind mir die Menschen, die ich liebe, wichtig genug, dass ich genug Mut aufbringe, um loszulassen?"

Glaubwürdigkeit

Glawischnig und Mitterlehner hatten den Mut. In ihren Abschiedsreden brachten sie zwar unterschiedliche, aber persönliche Argumente für den Rückzug – die Öffentlichkeit dankte mit Respektbekundungen und guten Wünschen. "Beide Rücktritte waren absolut gelungen", sagt Regina Jankowitsch. "Sie sind von sich aus gegangen und wurden nicht, wie in anderen Fällen, monate- oder gar jahrelang zum Rücktritt aufgefordert. Die Selbststeuerung ist ganz wesentlich für die Glaubwürdigkeit, vor allem, wenn es um so etwas Heikles wie die Abgabe von Macht geht."

Psychologie des Rücktritts: Wann es Zeit ist, zu gehen
Archivbild 28.10.1983
Nichts sei so fatal wie ein angekündigter Rücktritt, der nicht stattfindet. So wie Bundeskanzler Bruno Kreisky, der nach der Zwentendorf-Abstimmung 1978 lieber doch im Amt blieb. In solchen Fällen drohe ein drastischer Glaubwürdigkeitsverlust.

22 Minuten

Als positives Beispiel nennt die Expertin Hannelore Kraft: Die ehemalige Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen (Deutschland) trat 22 Minuten nach der Wahlniederlage zurück. Ähnlich entscheidungsstark war die Kärntner Topmanagerin und Politikerin Monika Kircher, die nach 13 erfolgreichen Jahren im Vorstand freiwillig ging, um "Platz für die nächste Generation" zu machen. Zwei Vorzeige-Abgänge.

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Sind Frauen besser darin, eine Machtposition zu verlassen? "Um diese Unterschiede objektiv zu erfassen, gibt es noch zu wenige Frauen am Ende ihrer Karriere", sagt Christine Bauer-Jelinek, Wirtschaftscoach und Machtanalytikerin (Buch: "Machtwort", ueberreuter). "Ich beobachte aber, dass Frauen ein Rücktritt oft leichter fällt, weil sie eine moralische Komponente oder gesundheitliche Gründe ins Spiel bringen. Sie werden dafür nicht so sehr gestraft, sondern bewundert. Männer werden viel stärker an Prestige und an ihrem Amt gemessen und tun sich schwerer damit, dieses aufzugeben."

Gesundheit

Psychologie des Rücktritts: Wann es Zeit ist, zu gehen
Interview mit Josef Pröll am 20.04.2017 in Wien.
Betrachtet man die Rücktritte der vergangenen Jahre, findet man das Gesundheitsargument freilich nicht nur bei Politikerinnen. Auch ÖVP-Finanzminister Josef Pröll berichtete 2011 von körperlichen Warnsignalen, die ihn zu seinem Abgang bewogen hätten. "Ich rate jedem, rechtzeitig auf seine Gesundheit zu schauen. Wir haben nichts davon, wenn Märtyrer im Amt sterben", sagt Bauer-Jelinek. Dass scheidende Politiker den Wunsch nach Work-Life-Balance äußern, kommt gut an. "Es zeigt die Härte des Jobs und macht Politiker menschlicher."

Vermächtnis

Eine denkwürdige Rücktrittsrede mischt sich aus verschiedenen Argumenten zusammen: persönliche, sachliche, rationale. "Ich empfehle meinen Klienten, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen", sagt Regina Jankowitsch. "Dann folgt eine gute Argumentation und ein Ausblick, wie es weitergehen soll." Ein abschließender Appell – Glawischnig wünschte sich mehr Frauen in der Politik – bleibt als politisches Vermächtnis. Auch Kritik darf sein – wenn sie konkret ist. "Man muss genau wissen, was gemeint ist. Ein Rundumschlag nützt niemandem und lässt den Abtretenden wehleidig aussehen."

Karriereschub

Die aktuelle Rücktrittswelle spiegelt einen generellen Trend in der Gesellschaft wider, sagt Christine Bauer-Jelinek. "Insgesamt bleiben die Menschen nicht mehr Jahrzehnte in ihren Berufen. Man macht den nächsten Karriereschritt oder zieht sich zurück, weil man schon genug gearbeitet hat. Das gilt vor allem für Spitzenpositionen, wo es sehr starke persönliche Belastungen gibt." Ein gut gemachter Rücktritt könne ein Karriereturbo sein: "Man nimmt die Erfahrungen, das Image, den Markenwert mit und bringt sie woanders ein."

Privatleben

Regina Jankowitsch begrüßt die Richtungsänderung in der Rücktrittskultur. "Es ist wichtig, dass wir Verantwortung leben, indem wir sagen: Wenn ich nicht mehr über die Gesundheit, Kraft und Dynamik verfüge, wenn frischer Wind besser wäre, ist es meine verdammte Verantwortung, aus dem Amt zu gehen. Außerdem tut man etwas Gutes für sein Privatleben: Es gibt nämlich viele Dinge auf der Welt, die einen glücklich machen können."

Für diese Dinge hat Eva Glawischnig endlich wieder Zeit. Wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird, hat sie noch nicht verraten. Nur so viel: Vorerst wird sie sich voll und ganz auf ihre Familie konzentrieren – Macht hin oder her.

"Macht ist das stärkste Aphrodisiakum“ ist ein Satz, der Henry Kissinger, ehemaliger Außenminister der USA, zugeschrieben wird. Damit wäre alles gesagt. Das Gefühl, an den Schrauben des Weltenlaufs zu drehen, ist offensichtlich berauschend – nicht nur für Politiker, auch für Top-Manager aus der Wirtschaft. Sich davon zu verabschieden, ist eine Übung, die nicht vielen gelingt. Was zu bedauern ist, denn wenn es an der Zeit ist, zu gehen, sollte man gehen. Auch das ist Evolution – als einmalige Chance für Erneuerung, sodass andere Kräfte frei werden. Kaum etwas ist schlimmer als Menschen, die die Notwendigkeit dafür nicht spüren können oder wollen – aus lauter Angst, nach dem Abgang womöglich bedeutungslos zu werden. Deshalb verharren manche lieber stur in ihrer Position und verwalten den Stillstand. Aus der geliebten Macht wird dann die Macht der Gewohnheit. Sie wirkt oftmals sehr befremdlich.

Die Kunst des Rückzugs als Führungsstärke

Was mich irritiert: Dass die Sesselkleber völlig das Gefühl dafür verloren haben, wer sie sind und wofür sie stehen. Sie stecken lieber den x-ten Shitstorm in den sozialen Medien weg und allen Buh-Rufen zum Trotz den Kopf in den Sand, als zu sagen: „Danke, mir reicht’s. Ich bin auch nur ein Mensch.“ Weil sie nicht akzeptieren wollen, dass Ruhm so volatil ist wie manche Aktienkurse. Nach wie vor wird unterschätzt, was ein elegant hingelegter und professioneller Rückzug kann. Er steht für (Selbst)verantwortung und beweist Gespür für das, was hier und jetzt zu tun ist. Auch das zeigt Führungsstärke. Daher wird glaubwürdig, wer den Mut hat, sich und sein Tun zu hinterfragen, dabei seiner inneren Stimme folgt und – so schwer es auch fallen mag – loslässt. So ein Rücktritt ist dann auch ein Zeichen für Anstand, weil sich damit endlich wieder etwas umordnen kann. Und er setzt der Leidensfähigkeit ein Ende, die man sich, und vielleicht auch seinem Körper mit zusammengebissenen Zähnen verordnet hat.

gabriele.kuhn@kurier.at

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