Spitäler, Kinder- und Jugendgesundheit und Medikamentenversorgung wurden von der Plattform „Praevenire“ als die größten Problemfelder identifiziert. Im neuen Jahrbuch stellen Experten, darunter ein Ex-Minister, Forderungen an die Politik.
Personalnot in den Spitälern, eine ausgedünnte Kassenmedizin und eine politische Debatte, in sich alle Beteiligten die Schuld an diesen Missständen gegenseitig zuschieben. So lautet der Befund für das heimische Gesundheitssystem. Ein „Desaster“ ortet gar die private Plattform „Praevenire“, die am Mittwoch zu einer Diskussionsveranstaltung lud. Dabei sprachen Experten zu den aktuell drei größten Problemfeldern.
Mit den Finanzausgleichsverhandlungen geraten wieder die Kosten in den Fokus. Diese hätten zuletzt eine Eigendynamik entwickelt, rechnete Alexander Biach, stv. Direktor der Wiener Wirtschaftskammer, vor: Die Ausgaben im Bereich Fondsspitäler sind von 2012 auf 2021 um 41 Prozent auf 16,42 Milliarden Euro gestiegen, jene für die Ambulanzen sogar um 105 Prozent; die Honorare für die niedergelassen Ärzten hingegen „nur“ um 48 Prozent. Und das bei fast gleich bleibender Patientenfrequenz.
Der Streitpunkt bei den Finanzausgleichsverhandlungen: Die Länder bezahlen die Mehrausgaben für die Spitäler, weil die Kassen einen Pauschalbetrag fixiert haben. Sie fordern jetzt, dass die Kassen den ambulanten Bereich komplett übernehmen und die Pauschalierung neu aufgestellt wird. Diese aber sagen: Am Pauschalbetrag wird nicht gerüttelt.
Laut Biach brauche es ein System, in dem Patienten nicht hin- und hergeschoben werden – mitsamt treffsicherer Finanzierung. Praevenire-Präsident Hans Jörg Schelling ergänzte mit Blick auf die laufenden Verhandlungen, dass man wenigstens einen gemeinsamen Topf für niedergelassene Ärzte und Ambulanzen schaffen sollte.
Das sind die drei großen Themenbereiche inklusive Forderungen an die Politik:
Experte fordert radikalen Umbau der Spitalsversorgung
Wer kein Privatpatient ist und ein neues Hüft- oder Kniegelenk benötigt, braucht gute Nerven: Wartezeiten von mehreren Monaten bis zu über einem Jahr für einen OP-Termin sind derzeit keine Seltenheit.
Für Andreas Stippler, Fachgruppenobmann der Orthopäden, sind es gleich mehrere Faktoren, die aktuell die Lage so kritisch machen: „Wir sind immer noch dabei, jene Operationen nachzuholen, die wir wegen der Pandemie verschieben mussten.“ Corona sei auch dafür verantwortlich, dass das Personal völlig ausgepowert sei. Viele hätten dem Spital überhaupt den Rücken gekehrt. „Oft gibt es nicht einmal mehr Pflegekräfte, die den Patienten vom Zimmer in den OP schieben können“, sagt der Arzt.
Er kritisiert aber auch die vor einigen Jahren erfolgte Zusammenlegung des Fachs Orthopädie mit der Traumatologie, die zu Kapazitätseinbußen geführt habe, um die akute Unfallversorgung sicherzustellen.
Stippler fordert einen Ausbau der orthopädischen Versorgung, auch im niedergelassenen Bereich: Die Generation der Babyboomer erreiche jetzt das Pensionsalter, weshalb die Zahl der Patienten mit Gelenksarthrosen demnächst stark ansteigen werde.
„Es gibt keinen Tag ohne Meldungen über Probleme in den Krankenhäusern“, sagt Wilhelm Marhold, der bis 2014 den Wiener Krankenanstaltenverbund (heute: Wigev) leitete und nun als Gynäkologe und Berater tätig ist. „Es ist aber wenig sinnvoll, wenn die Verantwortlichen als Reaktion darauf mit dem Flammenwerfer auf die Ärztekammer oder die Krankenkassen schießen oder hinter den Berichten eine Kampagne orten“, sagt der Mediziner.
In vielen Spitälern erfolgen derzeit wegen Personalnot Betten- oder Stationssperren. Für Marhold sind sie eine „Kapitulation des Managements vor den Herausforderungen“.
Um die Spitäler zu entlasten, schlägt er einen radikalen Umbau der dortigen Versorgung vor, „Ambulantisierung“ nennt er das. Dafür will er allen voran das Potenzial tagesklinischer Leistungen besser ausschöpfen. Rund 800.000 seien theoretisch pro Jahr österreichweit möglich, tatsächlich würden aber nur rund 200.000 erfolgen. Allein schon mit deren Ausbau würde eine große Zahl an Nachtdiensten überflüssig werden, was die Lebensqualität des Personals verbessern würde.
In die ähnliche Richtung zielt Marholds Forderung nach einer „multidisziplinären Belegung“ von Stationen. Soll heißen: Auf einer Station sind Patienten aus verschiedenen Fachbereichen untergebracht. „Die Auslastung ließe sich dadurch gleichmäßiger verteilen“, ist der Mediziner überzeugt. Das Denken in fachspezifischen Bettenstationen sei hingegen veraltet. Voraussetzung sei aber, so betont Marhold, eine völlige Neuaufstellung der Finanzierung.
Drei Mal so viele Suizidversuche bei Jugendlichen
Corona, Krieg, Klima: Drei Krisen, unter denen Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren besonders stark gelitten haben. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie habe sich die Zahl an jungen Patienten, die nach einem Suizidversuch zu versorgen waren, verdreifacht, berichtet Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Wiener Universitätsklinik.
Das Gesundheitswesen müsse reagieren – und zwar umfassend. Plener fordert einen Ausbau der ambulanten psychiatrischen Versorgung und des Psychotherapie-Angebots auf Krankenschein, aber auch des stationären Angebots: Es brauche eine Verdoppelung der Bettenzahlen, „um auf einen europäischen Standard zu kommen“.
Damit das Thema politisch mehr Gewicht erhält, fordert Markus Wieser, Präsident der nö. Arbeiterkammer, die Einrichtung eines „Staatssekretariats für Kinder- und Jugendgesundheit“ im Gesundheitsministerium und ein entsprechendes Budget. Schlagwort: „Kinder- und Jugendgesundheits-Milliarde“. Gerade im jungen Alter sei Prävention wichtig: „Mit jedem Cent, der in die Prävention gesteckt wird, spart man sich später ein Vielfaches.“
Hier sei aber auch der Bildungsbereich gefordert: Bei vielen, die sich online informieren wollen, scheitere es an einer „sprachlichen und intellektuellen Barriere“, sagt Wieser. „Jedes Ikea-Regal kann man aufbauen, ohne lesen zu können. Die Website des Gesundheitsministeriums aber setzt Deutschkenntnisse auf Maturaniveau voraus.“ Er plädiert dafür, derlei wichtige Informationen in einfacher Sprache zu verfassen.
Antibiotika aus Tirol statt aus China und Indien
Die seit Monaten anhaltenden Lieferengpässe haben zuletzt Patienten zu spüren bekommen, die an der grassierenden Streptokokken-Infektion im Hals erkrankt sind, schildert Erwin Rebhandl, Hausarzt und Gründer eines Primärversorgungszentrums im Oberen Mühlviertel, Oberösterreich.
Breitband-Antibiotika (Amoxicillin/Clavulansäure) gab es nur noch, wenn sie in den Apotheken zubereitet wurden. Das eigentlich optimale Antibiotikum, Penicillin V, war nicht verfügbar. Und das nicht nur im ländlichen Bereich, sondern auch in den Städten, betont Rebhandl. „Für unsere Patienten ist das nicht nur unangenehm, sondern auch riskant.“
Laut einer Umfrage von Marketagent waren übrigens schon jeder sechste Österreicher von den Lieferengpässen betroffen, für jeden Dritten würde das eine ernsthafte Bedrohung darstellen.
Gunda Gittler, Vorstandsmitglied von Praevenire und Apothekerin in einem Linzer Krankenhaus, fordert eine gesetzlich verpflichtende Lagerhaltung. Im intramuralen Bereich (in Krankenhäusern) gebe es die Verpflichtung, für 14 Tage Lager zu halten, die Vorlieferanten hätten diese aber nicht.
Im Praevenire-Jahrbuch wird darüber hinaus gefordert, Europa als Standort für die Pharmazie- und Medizinprodukteherstellung zu attraktivieren – derzeit findet diese ja vor allem in Indien und China statt. Als Positiv-Beispiel wird die Penicillin-Produktion in Tirol genannt, die durch Zuschüsse von Bund und Land gestützt wurde.
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