NMS: "Die Kinder sind sicher nicht das Problem"

NMS: "Die Kinder sind sicher nicht das Problem"
Die Neue Mittelschule (NMS) als Sammelbecken für "Problemfälle“ zeige die enorme Lücke in unserem Bildungssystem. Die Lehrer haben ein klares Ziel: Einen weiteren Bildungsweg für diese Kinder.

250 Kinder tummeln sich hier in der Neuen Mittelschule (NMS) in der Pazmanitengasse, kurz bevor die Glocke läutet und sie in ihren Klassen verschwinden. Drei Jungs werden am Schulgang gerade von einer Lehrerin zurechtgewiesen, sie hatten das Gebäude unerlaubt verlassen. Während der Standpauke kichern sie und sind sichtlich erleichtert, dass die Strafe nicht allzu hart ausfällt. Es bleibt bei einer Ermahnung.

Kaum welche der Kinder haben Eltern, die in Österreich geboren sind. 34 verschiedene Muttersprachen vereinen sich hier in den Unterrichtsräumen. Unter den 250 Kindern sind 37 Flüchtlinge, 61 tragen den Status eines "Außerordentlichen Schülers". Ihnen wird damit die ersten beiden Jahre eine Phase der Akklimatisierung geboten. In dieser NMS wird der Fokus auf verstärkten Englischunterricht gelegt. Das zeigt sich zum einen durch die zusätzliche Unterstützung von Native Speakern, zum anderen wird in verschiedenen Nebenfächern zusätzlich auf Englisch unterrichtet.

NMS: "Die Kinder sind sicher nicht das Problem"

Weil uns bei kurier.at interessiert, wie die jungen Schüler ticken, welche Medien sie kennen und konsumieren, was sie sich beruflich wünschen und über Politik denken, durfte ich in der 4B einen entsprechenden Workshop abhalten. Medienkompetenz stand im Mittelpunkt des zweistündigen Unterrichts. Ich habe den Kindern die österreichische Presselandschaft vorgestellt, sie gefragt, welche Zeitungen sie kennen und woher. Wir haben über die Unterschiede von Qualitäts- und Boulevardmedien gesprochen - und über das Thema Pressefreiheit, was sie besonders bewegt hat. Die Länder, aus denen die meisten Kinder diese Klasse stammen, sind stark von Zensur betroffen, das wissen diese Schüler auch. Zuletzt haben sie mir erzählt, was sie sich für ihre Zukunft hier in Österreich wünschen.

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Welche Zeitungen kennt ihr?

An der Spitze beim Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad findet sich die Gratiszeitung Heute. Jedes Kind in dieser Klasse kennt sie. "Die liegt in der U-Bahn herum und deshalb blättere ich sie immer durch“, sagt Alex, der Junge im karierten Hemd aus der ersten Reihe. Danach folgen Österreich und die Kronen Zeitung. Einige wenige nennen noch den Kurier, den Standard und ein Schüler kennt Die Presse. Ihre Zeit verbringen sie aber sowieso lieber vor dem PC oder am Mobiltelefon. Whatsapp, Facebook, Instagram, YouTube – der neue Spielplatz der ganz jungen Generation.

Ganz konkret sind es beispielsweise Plattformen wie Made my Day. Dort findet man für alle Lebensbereiche unterschiedliche Listacles (Anm.: Eine Mischung aus „List“ und „Article“, zählt zu den derzeit populärsten Blogformaten. Dabei wird der Artikel in Form einer Aufzählung veröffentlicht), Lebensweisheiten und Lifehacks (Anm.: Tricks, die den Alltag erleichtern). Bei den Video-Bloggern sind LeFloid, PewDiePie, Jay & Arya, Bibis Beauty Palace und Gronkh am beliebtesten bei den 13- und 14 Jährigen.

Alex, Milad und Vanessa sind Schüler der 4B.

Alex ist in Portugal geboren und damit als EU Bürger eingewandert. Er lebt erst seit drei Jahren hier in Österreich. Seine Eltern stammen eigentlich aus der Ukraine. Der kleine aufgeweckte Junge spricht fünf verschiedene Sprachen. Alex hat es als eines von vier Kindern der Schule geschafft, den hauseigenen NYC Wettbewerb zu gewinnen.Die Lehrer fliegen mit vier Auserwählten für eine Woche nach New York und besuchen mit ihnen auch eine Partnerschule in Brooklyn. "Die Kinder kommen wie ausgewechselt zurück. Eine solche Reise weitet den Blick und die Perspektive der Kids“, sagt Karina Krummeich, die Lehrerin der Klasse. Milad dufte ebenfalls mit nach New York reisen. Seine Geschichte beginnt in Afghanistan, wo er geboren ist. Seine Muttersprache ist Dari. Milad lebt nun seit vier Jahren in Österreich. "Es war schwierig, seine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Letztlich hat aber alles geklappt. Hier haben sich alle wahnsinnig für ihn gefreut. Einem so fleißigen Jungen, der für sein Alter schon sehr viel Verantwortung übernehmen musste, wünscht man diese Möglichkeit sehr“, so Krummeich. Vanessa ist in Österreich geboren, ihre Muttersprache ist allerdings Rumänisch, doch das merkt man in keinster Weise. Das Mädchen spricht perfekt Deutsch und ist eine der Besten in der Klasse. Haben Mitschüler Probleme, hilft sie gerne. Anfang des Jahres wurde sie zur Schulsprecherin gewählt.

Was wollt ihr beruflich einmal machen?

Die Berufswünsche der Kinder der 4B sind ganz unterschiedlich: Mechaniker, Bürokauffrau, Architekt, Schauspielerin, Konditor, Ärztin, Rechtsanwalt. "Das Ziel muss es sein, dass so viele Kinder wie möglich einen weiteren Bildungsweg einschlagen, damit sie später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben“, so Krummeich.

Denn die Wahrheit ist, dass reine Pflichtschulabsolventen mit Sicherheit immer wieder am AMS landen und kaum dauerhafte Jobs finden werden. Die Arbeitslosenquote beträgt in dieser Gruppe in Wien 40 Prozent. Tendenz steigend. "All jene, die keine weitere Ausbildung machen oder keinen weiteren Bildungsweg einschlagen, kommen ganz sicher immer wieder zum AMS. An den hiesigen NMS ist dieses Bewusstsein für die kritische Lage dieser Kinder sehr hoch“, sagt Doris Landauer vom AMS Wien.

Zu sagen, es wäre komplett unrealistisch, dass ein NMS-Schüler den Beruf des Arztes ergreifen könnte, sei jedoch falsch. "Allerdings ist es leider so, dass diese Kinder nicht ihren kognitiven Fähigkeiten entsprechend eingestuft werden. Sie werden einfach alle in die NMS gesteckt, die niedrigste Stufe, die es in unserem Schulsystem gibt.“

Unser Bildungssystem habe hier enorme Lücken und durch die Flüchtlingsfrage würden diese noch deutlicher. "Wir stufen diese Kinder aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse auf dem niedrigsten Niveau ein. Also dort im System, wo wir ohnehin schon Probleme haben.“ Stärkere Unterstützung beim Deutschunterricht wäre daher enorm wichtig.

Sammelbecken für "Problemfälle"

Mit der Einstufung in eine NMS werden die Hürden später nur noch größer. "Eigentlich hätten diese Kinder noch ausreichend Zeit, um jeglichen Beruf zu lernen, aber die NMS Einstufung erschwert ihnen dies erheblich. Man darf nicht vergessen, diese Kinder sind entwurzelt, in der Vorpubertät und erfahren einen Dämpfer nach dem anderen. Dann sinkt auch die Motivation.“

Die Schülerzusammensetzung sei ein großes Problem. Die NMS als Sammelbecken für die "Problemfälle“, sei eine Katastrophe. "Studien zeigen, dass sich dies schlecht auf die Lernerfolge der ohnehin benachteiligten Kinder auswirkt. Warum sollte man sie nicht auch in Gymnasien stecken?“, so Landauer. Studien würden nämlich auch zeigen, dass die restlichen Kinder davon keine Benachteiligung hätten. "Aber die Gymnasien nehmen diese Kinder nicht auf. Sie machen es von der Sprache abhängig, nicht von den kognitiven Fähigkeiten“, kritisiert Landauer. "Mir blutet das Herz bei diesem Thema.“

Hinzu käme, dass diese Kinder meist kein unterstützendes Elternhaus hätten. Und auch die Bildung der Eltern spiele natürlich eine Rolle bei den Bildungschancen. "Dass es diese Kinder ungemein schwerer haben, als jene von Eltern mit einem hohen Bildungsgrad, ist selbstredend“, sagt Landauer.

Der kleine Alex im karierten Hemd hat es jedenfalls geschafft, als einer von vier Schülern der Pazmanitengasse nach New York reisen zu dürfen. Er spricht fünf Sprachen und überschlägt sich fast vor lauter Aufzeigen bei dem Workshop. Er liest sehr viel und kennt sich auch politisch schon beachtlich gut aus. Er erzählt von Donald Trump, den Verhaftungen in der Türkei und von Norbert Hofer. Lehrerin Krummeich ist sehr bemüht, sie macht den Job erst sein ein paar Monaten, sie ist sich ihrer Verantwortung bewusst. "Ich bin an einer Schule gelandet, die ganz typisch für die aktuellen Debatten ist. Alle reden über die sogenannte Ausländerfrage und Flüchtlinge. Aber die Kinder sind sicher nicht das Problem."

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