Nehammer ablösen? "Es würde um keinen Deut besser"
Die ÖVP debattiert über ihren Obmann. Wieder einmal. Diesmal lautet die Story so: Johanna Mikl-Leiter habe bei irgendeiner Gelegenheit die Bemerkung fallen lassen, wenn die Landtagswahlen in Tirol so ausgingen, wie es die Umfragen zeigen, müsse man die Notbremse ziehen.
Ob der Satz je so gefallen ist und wenn ja, eine konkrete Tatankündigung war, ist schwer zu eruieren. Die Niederösterreicher dementieren jedenfalls heftig, andere ÖVP-Funktionäre (vor allem von Wirtschaftsbundseite) tragen die Story herum.
Aus dieser Geschichte lässt sich weniger ablesen, dass Karl Nehammers Kanzlerposten unmittelbar gefährdet wäre. Sie erzählt viel mehr über den Zustand der ÖVP.
Dort herrscht erstens hohe Nervosität wegen der bevorstehenden Landtagswahlen. Immerhin drohen der ÖVP in zwei ihrer (katholischen) Kernländer, Tirol und Niederösterreich, schwere Verluste. In Tirol könnte sie am 25. September erstmals unter 30 Prozent fallen. In Niederösterreich, wo bis spätestens Mitte März 2023 gewählt werden muss, könnte sie unter 40 Prozent zu liegen kommen – ein Horrorszenario für die machtverwöhnte niederösterreichische Volkspartei.
Machtvakuum an VP-Spitze
Zweitens zeigt die Nehammer-Debatte, dass die alten Bündekämpfe wieder ausbrechen. Der Wirtschaftsbund fühlt sich inhaltlich und personell unterrepräsentiert, die Marschroute im ÖVP-Team geben lauter Arbeitnehmerbündler wie Nehammer selbst und dessen Vertraute Wolfgang Sobotka und August Wöginger vor.
Die Bündekämpfe sind Folge des Machtvakuums seit dem Abgang von Sebastian Kurz. Als Stimmenbringer hatte Kurz die Autorität besessen, internes Gezerre zu ersticken. Und zum Raunzen gab es angesichts der Wahlerfolge ja nichts.
Autorität des Wahlsiegers fehlt
Das genau ist ein Punkt, warum ein Wechsel im Kanzleramt nicht viel ändern würde: Auch dem Neuen würde die Autorität des Wahlsiegers fehlen, und er oder sie wäre binnen kürzester Zeit wieder an dem Punkt angelangt, an dem sich Nehammer jetzt befindet. „In nächster Zeit, in den kommenden Wintermonaten, gibt es nichts zu gewinnen. Wo soll denn ein österreichischer Kanzler, wer immer es wäre, die fehlende Energie herzaubern?“, sagt Politik-Berater Thomas Hofer.
In den kommenden Monaten sei nichts als Krisenmanagement gefragt, ein neuerlicher Kanzlerwechsel würde bei der Bevölkerung „den Eindruck von Panik hervorrufen“.
Insgesamt fasst Hofer die Situation in der ÖVP so zusammen: „Die Debatte um Nehammer gibt es, aber es würde um keinen Deut besser, wenn man ihn austauscht.“
Davon unabhängig ist die Frage zu sehen, ob Nehammer Spitzenkandidat bei der nächsten Nationalratswahl wird. Das ist zu weit weg.
Debatte kommt für Van der Bellen ungelegen
Nicht außer Acht lassen sollte man den Bundespräsidenten, der ja bei einem Kanzlerwechsel mitspielen muss. Zwar ist er durch die Mehrheiten im Parlament eingeschränkt, aber beauftragt wird der Kanzler vom Staatsoberhaupt.
Nun steht Alexander Van der Bellen selbst gerade im Wahlkampf, und er ist maßgeblich auf sozialdemokratische Stimmen angewiesen. Die Grünen bringen ja nur zehn Prozent auf die Waage, die SPÖ 30. Und ca 80 Prozent von ihnen wollen laut Umfragen VdB wählen.
Angesichts dessen würde sich Van der Bellen schwer tun, der ÖVP zu gestatten, reihenweise Kanzler auszuprobieren, bis endlich einer gegen die derzeit in allen bundesweiten Umfragen führende SPÖ ein Leiberl hat. Auch unmittelbar nach der Wahl am 9. Oktober wird es sich Van der Bellen mit seinen Wählern wohl nicht sofort verscherzen wollen, noch dazu, wo absehbar ist, dass viele Bürgerliche ihr Kreuz beim FPÖ-Kandidaten Walter Rosenkranz machen werden.
Parteifreier Regierungschef?
„Das Kanzler-Thema kommt Van der Bellen gar nicht gelegen“, meint auch Thomas Hofer. Die Gerüchteküche im Regierungsviertel will bereits einen Ausweg aus dem Dilemma kennen: Sollten in der ÖVP die Dämme brechen, könnte Van der Bellen einen parteifreien Experten zum Regierungschef machen, um zumindest den Krisenwinter ohne Neuwahl durchzutauchen.
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