Michael Landau: "Müssen sozialen Lockdown verhindern"
KURIER: Die Regierung hat das Kurzarbeitsmodell III beschlossen, das bis März 2021 gelten wird. Stimmt Sie das zuversichtlich, weil der Staat hilft oder pessimistisch, weil die Wirtschaft so lange Hilfe brauchen, die Krise dauern wird?
Michael Landau: Es ist eine gute und richtige Entscheidung, die Kurzarbeit zu verlängern. Wir sind gut durch die Gesundheitskrise gekommen. Jetzt muss alles getan werden, um einen sozialen Lockdown zu verhindern. Wir sehen in unseren Sozialberatungsstellen, dass deutlich mehr Menschen kommen. In Salzburg hat sich die Zahl verdreifacht, in Wien verdoppelt. Darunter viele Menschen, die nie gedacht hätten, dass sie die Hilfe der Caritas in Anspruch nehmen müssen. Wenn wir bis jetzt gut durch die Krise gekommen sind, dann nicht zuletzt, weil Österreich einen funktionierenden Sozialstaat hat.
432.000 Menschen sind derzeit ohne Arbeit. Sie plädieren - wie zuletzt SPÖ und Grüne - für die Erhöhung der Nettoersatzrate von derzeit 55 Prozent. Dadurch, so Kritiker, gäbe es weniger Anreiz, sich einen Job zu suchen.
Wir werden in dieser Krise lange gefordert sein. Da ist es wichtig, nicht von Ideologien auszugehen, sondern von der konkreten Not der Betroffenen. Viele leben am Limit oder darunter. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die wichtig wären. Eine ist, die Ausgleichszulage auf 1000 Euro anzuheben. Das wäre etwa für Mindestpensionisten wichtig. Eine zweite, die im internationalen Vergleich niedrige Nettoersatzrate anzuheben. Ja, das Ziel ist, dass Menschen wieder Arbeit bekommen, aber für viele wird das nicht so rasch möglich sein. Eine dritte Maßnahme: Die Regierung sollte die Sozialhilfe Neu rasch reformieren und armutsfest ausgestalten.
Wie hoch soll die Nettoersatzrate konkret sein?
Da setze ich auf die Sozialpartner, die wissen, was ein guter Weg ist. Die Regierung hat dem Gesundheitsbereich und der Wirtschaft viel Aufmerksamkeit gewidmet. Zu Recht. Wir müssen nun mit der gleichen Entschiedenheit dafür sorgen, dass das soziale Gefüge unseres Landes stabil bleibt. Das ist eine Aufgabe, die nur gemeinsam gelingen kann. Vergessen wir die Menschen nicht, die schon vor der Krise in der Krise waren.
Gibt es den "guten Grundwasserspiegel der Nächstenliebe und Solidarität in Österreich", von dem Sie vor Wochen in einem Ö1-Interview gesprochen haben, immer noch?
Ich sehe in unserer täglichen Arbeit, wie viel Hilfsbereitschaft da ist. Viele der tausenden freiwilligen Helfer gehören Risikogruppen an, doch es haben sich auch viele junge Menschen gemeldet, die sich engagieren wollen. Es gibt diesen guten Grundwasserspiegel der Nächstenliebe. Entscheidend ist: Auch dort, wo wir Abstand halten müssen, einander nahe zu bleiben.
Nehmen Sie denn gar mehr Nächstenliebe wahr?
Menschen nehmen gerade in der Krise wahr: Es kommt auf jeden und jede einzelne an. Das ist, was die aktuelle von den vorangegangenen Krisen unterscheidet: Das Tun und Lassen jedes einzelnen ist wichtig. Es hängt von mir ab, mich an Regeln zu halten, Maske zu tragen, Hygiene und Abstand einzuhalten und trotzdem nicht die anderen aus dem Blick zu verlieren. Das Learning dieser Krise ist: Jeder und jede kann etwas verändern.
Eine Annahme zu Beginn der Krise war, dass Gewalt, Depressionen und Suizid zunehmen werden. Es kam anders. Steht zu befürchten, dass die Prognosen eintreten werden, wenn der viel zitierte Herbst kommt?
Vieles ist noch offen. Zum Teil hat es auch in Österreich Zunahmen beim Suizid gegeben. Aber auch die Situation der Einsamkeit ist für viele - auch ältere Menschen - eine ungeheuer bedrückende gewesen. Doch Einsamkeit ist eine Not, die schon vor der Corona-Krise da war. Wir müssen einen Pakt gegen die Einsamkeit schmieden.
Was konkret kann der „Pakt gegen die Einsamkeit“ sein?
Einzelne Länder haben ihn schon. Es geht darum, die Fakten besser zu kennen, nachbarschaftliche Nähe zu leben, Aufmerksamkeit für das Thema, für die stille Not zu entwickeln.
Wir sprechen stets von der ersten und zweiten Welle. Denken Sie im sozialen, wirtschaftlichen Bereich auch an eine Dauerwelle?
Wir wissen es nicht. Vieles wird davon abhängen, wie rasch es gelingt, Medikamente und eine Schutzimpfung zu finden. Wir sind als Gesellschaft gut aufgestellt, doch das ist nicht selbstverständlich. Wir müssen immer hinsehen, den guten Willen, der bei den Menschen vorhanden ist, stärken, Zusammenhalt und Zuversicht befördern. Das ist es, wofür ich werbe.
Gibt es diesbezüglich einen Wunsch an die Regierung oder einen Appell?
Einige. Ich würde meine Arbeit schlechtmachen, hätte ich nicht die ein oder andere Idee. Arbeit, Armut und Einsamkeit, auch Bildung – das sind die Themen, denen wir uns stellen müssen.
Hat sich die Spendenbereitschaft in der Corona-Zeit verändert?
Es ist noch zu früh, das endgültig zu sagen. Es gibt eine großen Hilfs- und Spendenbereitschaft. Die Hilfe wird aber einen langen Atem brauchen.
Apropos Hilfe und Sie auch als Präsident der Caritas Europa gefragt: Welches Bild haben Sie derzeit von der EU?
Ich habe den Eindruck, die Staats- und Regierungschefs haben in der Krise mit dem EU-Hilfspaket wirklich Verantwortung gezeigt. Es ist insgesamt ein rasches, gutes und wichtiges Hilfspaket. Jetzt wird es darauf ankommen, dass die Hilfe in den Ländern so ausgestaltet wird, dass sie die Menschen erreicht. Dass sie Maß an dem Ziel nimmt, niemanden zurückzulassen. Gleichzeitig gilt es zu schauen: Gibt es Punkte, wo noch Nachbesserungen möglich wären.
Wo orten Sie Nachbesserungspotential?
Zum einen hat die EU-Kommission im Bereich des Europäischen Sozialfonds zurecht deutliche Aufstockungen vorgeschlagen. Das ist leider, zu einem hohen Teil, wieder gestrichen worden. Das Zweite ist die Frage der internationalen Verantwortung. Eine Pandemie macht deutlich: Wir hängen auf dieser Welt miteinander zusammen. Eine Pandemie lässt sich nicht in einem Land, in einem Kontinent, sondern nur weltweit besiegen. Die Kommission hat zurecht eine Aufstockung der humanitären und der Entwicklungshilfe vorgeschlagen - gerade auch im Blick auf Afrika. Gleichzeitig ist genau diese Hilfe von den Staats- und Regierungschefs gestrichen worden.
Die "frugalen Vier", zu denen auch Österreich gehört, stehen in der Kritik. Auch bei Ihnen?
Ich habe Verständnis, dass der Bundeskanzler die Interessen der Republik wahrnimmt. Dafür ist er gewählt. Zugleich ist klar: Ein starkes, lebendiges Europa ist im größten Interesse Österreichs. Das ist, wenn schon nicht aus humanitären Überlegungen, doch aus Gründen der Vernunft einsichtig. Es ist in unser Interesse, wenn es sich etwa Menschen aus Italien oder Spanien auch morgen noch leisten können, Produkte aus und Urlaub in Österreich machen zu können. Europäisch zu denken steht nicht im Widerspruch zu österreichischen Interessen, sondern ist Hand in Hand zu denken.
Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Kanzler Sebastian Kurz?
Der Herr Bundeskanzler hat sich die vergangenen Wochen und Monate intensiv um europäische Fragen gekümmert, und das ist gut so. Auch mir ist als Caritas-Verantwortlicher in diesen Wochen nicht langweilig geworden. Wir waren gefordert, die Nothilfe zu organisieren, das Pflegesystem stabil zu halten. Ich habe immer wieder an ihn gedacht. Durchaus mit Respekt. Aber wir waren nicht im laufenden Austausch.
Das letzte Gespräch mit Kurz liegt also lange zurück.
Ich habe ihm alles Gute gewünscht. Das wünsche ich im Übrigen Allen, die jetzt in der Krise im Einsatz sind. Es ist an dieser Stelle auch wichtiger, dass unsere Krisenstäbe im Gespräch sind, weil sie alle ein Ziel haben - nämlich, dass niemand verloren geht. In der Situation, in der wir sind, will ich auch dafür werben, dem Anderen gute und nicht zuerst schlechte Absichten zu unterstellen. Ich glaube, dass es dem Bundeskanzler und dass es auf Bundes- und Länderebene insgesamt darum geht, für unser Land und die Menschen etwas weiterzubringen.
Raus aus Österreich und Europa nach Afrika. Einen Kontinent, den Sie normalerweise ein Mal im Jahr besuchen. In dem Dürre vorherrscht ebenso wie Infektionskrankheiten wie Covid und nun auch eine Heuschreckenplage, von der auch schon in der Bibel die Rede ist. Wie erklären Sie als Priester, wie Gott das zulassen kann?
In manchen Ländern ist die Situation ganz dramatisch wie in Kenia, wo Dürre die Menschen belastet, die größte Heuschreckenplage seit 70 Jahren herrscht und Covid-19 die Situation dramatisch verschärft. Zu Ihrer Frage zurück: Als Theologe könnte ich Ihnen zum Leid einiges sagen. Als Mensch sage ich Ihnen: Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass unser Tun und Lassen einen großen Unterschied macht. Ich möchte mich angesichts dessen nicht in die theologische oder philosophische Diskussion über das Leid vertiefen. Ich möchte daran erinnern, dass das Leid uns herausfordert. Dass Österreich weder die humanitäre Hilfe noch die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit ausreichend erhöht – das ist bedrückend.
In Österreich nimmt die Zahl der Armutsgefährdeten zu …
Ich halte es für wichtig, die eine Not nicht gegen die andere auszuspielen. Wir dürfen uns mit der Not, die es hier gibt, nicht abfinden. Die Hilfe in Regionen wie Afrika ist dennoch möglich. Ganz nüchtern: Es ist genug für alle da, aber nicht für Jedermanns Gier. Wir werden auch darüber reden und nachdenken müssen, wie wir die Aufgaben gemeinsam und fair bewältigen können. Innerhalb der EU sollte nun auch über Digitalisierungssteuern nachgedacht werde. Denn viele haben großes Leid durch die Krise erfahren, aber manche haben auch viel Gewinn geschöpft.
Sollten die Chefs der großen Digitalkonzerne einen Solidarbeitrag zahlen oder dazu animiert werden wie auch andere monetär mächtige Manager?
Es gibt weltweit, aber auch in Europa himmelschreiende Not und obszönen Reichtum. Das finde ich nicht in Ordnung. Ich weiß, dass sich viele für andere engagieren. Dass viele wohlhabende Menschen großherzig helfen. Dafür bin ich dankbar. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass die Krise deutlich macht, was für einen hohen Wert ein funktionierendes Sozialsystem hat. Ich bin überzeugt, wir können uns einen funktionierenden Sozialstaat leisten. Was wir uns nicht leisten können, ist ohne ihn zu sein. Klar ist, die Starken brauchen keinen starken Staat. Aber die Schwachen brauchen ihn, wenn sie nicht auf der Strecke bleiben sollen.
Ist Österreich ein starker Staat?
Ja. Es wird die Diskussion darüber erfolgen, wie wir mit Blick auf den Herbst und in Zukunft einen guten Weg für unser Land weitergehen können. Ich werbe dafür, nicht nur den Pfeiler der Wirtschaft stark zu halten, sondern auch den Pfeiler des Sozialen. Das ist eine Brücke und diese braucht beide Pfeiler: Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und Qualität der sozialen Sicherheit. Halten wir miteinander beide Pfeiler stark, dann wird es uns auch gut gehen. Wir tragen als Menschen immer Verantwortung für uns selbst, daran muss man manchmal auch erinnern, und für den anderen. Denn: Ohne ein Du wird keiner zum Ich.
Kommentare