Kocher: "Wir sehen Zeichen eines konjunkturellen Wendepunkts"
Er gehört seit vier Jahren der türkis-grünen Regierung, aber nicht der ÖVP an. 2025 wird er Robert Holzmann an der Spitze der OeNB folgen. Martin Kocher (51) über gescheiterte Reformen, vermehrte Pleiten und ein politisches Comeback.
KURIER: Sie sind nicht bei den Regierungsverhandlungen. Wollten Sie nicht oder wurden Sie nicht gefragt?
Martin Kocher: Natürlich war das Thema, aber formell war für mich klar, dass ich nicht mitverhandle, weil ich ab Herbst eine neue Funktion habe.
Sie haben als künftiger OeNB-Gouverneur doch jetzt schon etwas zu sagen?
Ich muss nicht selbst am Tisch sitzen, denn ich weiß, dass über unsere Konzepte der letzten Jahre viel Expertise aus meinem Ressort einfließt und unsere Standpunkte vertreten werden.
Was machen Sie die kommenden neun Monate bis Sie an die Spitze der Nationalbank wechseln?
Ich werde, solange es keine neue Bundesregierung gibt, mit voller Kraft Minister sein und dann die verbleibenden Monate als Professor an der Uni Wien lehren und forschen.
Welche von Ihren Konzepten liegen am Verhandlungstisch?
Die Reformen der Arbeitslosenversicherung und der Bildungskarenz beispielsweise. Zudem haben wir in den letzten Jahren eine Reihe von Thesenpapieren mit Vorschlägen – ob zum Standort Europa oder für Investitionsförderungen in Österreich – eingebracht.
Wie optimistisch sind Sie, dass die Abschaffung der Zuverdienstgrenze oder die Reform der Bildungskarenz umgesetzt werden? Die Untergruppen sind ja schon fertig …
… es ist erst alles fertig, wenn alles zusammen beschlossen ist. Es gibt jedenfalls aus meiner Sicht die Notwendigkeit, die Arbeitslosenversicherung zu ändern. Das eine ist das degressive Arbeitslosengeld – das andere ist die Zuverdienstmöglichkeit. Bei der Bildungskarenz gibt es ein generelles Einverständnis, weil es auch einen Rechnungshofbericht gibt und die Studien von Wifo und IHS.
Bereuen Sie, die Arbeitslosenversicherungsreform nicht umgesetzt zu haben?
Bereuen? Ich hätte sie gerne umgesetzt und wir haben alles dafür getan. Es scheiterte leider am Koalitionspartner. Dafür ist uns vieles andere gelungen wie die Umsetzung des European Chips-Act, der maßgeblich dem Innovationsstandort Österreich dient, mit drei Milliarden Euro Investitionsförderung bis 2031. Das ist ein wichtiges Signal für unsere Industrie. Ebenso wesentlich ist die Klima- und Transformationsoffensive im BMAW bis 2026 finanziert. Auch die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte zeigt Erfolg.
2023 wurden rund 8.000 RWR-Karten ausgestellt. Sie haben eine Vervierfachung angestrebt. Was ist daraus geworden?
Ich habe gesagt, dass wir 2027 rund 15.000 jährliche Genehmigungen erwarten. Es gibt ja kein Limit: Umso mehr nachgefragt werden, desto mehr werden ausgestellt. Heuer werden wir rund 10.000 RWR-Karten ausgegeben haben. Wichtig ist, dass wir darüber hinaus stabile Kooperationen mit Ländern wie den Philippinen vor allem im Bereich der Pflegefachkräfte geschaffen haben.
Aus welchen Ländern stammen derzeit die meisten Antragssteller?
Wenn man die absoluten Zahlen nimmt, dann kommen die meisten Anträge aus sehr großen Ländern wie China und Indien. Wenn man die relativen Zahlen zur Bevölkerung nimmt, dann kommen die meisten Menschen vom Westbalkan.
Seit 2011 sind rund 100.000 Menschen aus Syrien nach Österreich gekommen. Viele von ihnen haben einen niedrigen Alphabetisierungsgrad, geringe Jobchancen: Wäre es aus wirtschaftspolitischer Sicht besser, wenn diese Menschen nicht in Österreich wären?
Das ist schwierig generell zu sagen, denn es gibt meines Wissens keine umfassende wissenschaftliche Erhebung. Was stimmt ist, dass der Weg vieler Syrerinnen und Syrer in den Arbeitsmarkt ein langer ist. Wir haben versucht aus den Entwicklungen aus dem Jahr 2015/2016 zu lernen. Für kommendes Jahr haben wir 75 Millionen Euro zusätzlich für Jugend-Colleges, um Jugendliche mit einem Vollzeitprogramm an den Arbeitsmarkt heranzuführen – vom Spracherwerb bis zum Nachholen der Ausbildung.
Unabhängig davon: Halten Sie den Rückkehr-Bonus für Syrer von 1.000 Euro für gut? Dänemark bietet 27.000 Euro.
Das kann ich nur schwer einschätzen, weil ich die Zahlen nicht kenne, wie viele Menschen die Bereitschaft haben, zurückzukehren. Das Wichtigste ist, dass sich Syrien stabilisiert.
Sie sind Ökonom, seit vier Jahren Arbeitsminister: Was muss geschehen, damit Österreich überhaupt wettbewerbsfähig bleibt?
Eine Reihe von Maßnahmen. Wir haben Wettbewerbsfähigkeit verloren, weil die Kosten gestiegen sind. Beginnend bei den Lohnstückkosten, was auch den Abschlüssen bei den Kollektivverträgen geschuldet ist.
Wenn die Preise steigen, müssen auch die Löhne steigen. Löhne einzufrieren, das war noch nie eine gute Idee, weil es um den Kaufkrafterhalt geht. Es geht wesentlich auch um eine andere Seite, nämlich den Faktor der Produktivität. Wenn wir produktiver werden, dann können wir uns höhere Lohnstückkosten leisten und damit bessere Arbeitsplätze schaffen. Österreich wird nie ein Niedriglohnland sein und wir werden nie den Wettbewerb gewinnen, wenn wir nur auf die Löhne achten.
Was brauchen wir noch?
Es gibt genug Kapital für die Gründung von Unternehmen, was wir aber nicht haben – das ist genug Kapital, wenn eben diese Unternehmen wachsen. Wir haben uns deshalb für einen Dachfonds – den Rot-Weiß-Rot-Fonds – stark gemacht, in den der Staat wie auch Private Wachstumskapital einbringen. Wir brauchen, wie Enrico Letta in seinem Bericht für die EU-Staaten schreibt, eine Kapitalmarkt-Initiative auf EU-Ebene. Also eine Kapitalmarkt-Union. Es geht darum, dass die Attraktivität, in Europa zu investieren, viel höher wird. Jedes Jahr fließen 200 Milliarden Euro aus der EU in die USA. Das kann nicht im Interesse Europas sein.
Wie wirkt sich die aktuelle Pleitewelle auf die Investitionsfreudigkeit aus?
Insolvenzen lassen sich im Einzelfall nicht immer verhindern. Wir hatten in den letzten Jahren weniger Insolvenzen und jetzt eine längere Phase der Industrierezession. Wir sehen erste Zeichen eines konjunkturellen Wendepunkts, aber man muss hier vorsichtig sein. Jetzt brauchen wir weitere glaubwürdige Reform-Signale für mehr Zuversicht, damit die Unternehmen stärker investieren.
Zum Beispiel, dass die EU-Lieferkettenrichtlinie entschärft wird?
Die Energie- und Bürokratiekosten müssen sinken. Für die Aussetzung der sehr bürokratieintensiven Lieferkettenrichtlinie haben wir uns deshalb klar ausgesprochen und die EU-Kommissionspräsidentin hat angekündigt, die Berichtspflichten zu reduzieren. Das muss jetzt alles kommen.
Der Bundeskanzler gibt den Wirtschaftsforschern eine Teilschuld am hohen Budgetdefizit. Schiebt man damit nicht Verantwortung ab?
Ein Budget, das im Herbst erstellt wird, muss für das nächste Jahr gewisse Zahlengrundlagen haben. Dass die Prognosen im Herbst 2023 viel zu optimistisch waren, ist mittlerweile klar. Die Einnahmen sind konjunkturbedingt eingebrochen und das ist der Hauptgrund für das Budgetdefizit.
Das Budget 2024 hat ein Defizit von 2,7 Prozent des BIP vorgesehen. Der Spielraum zu den EU-Maastricht-Kriterien betrug also nur 0,3 Prozentpunkte. War das ambitioniert genug?
Das muss man im Nachhinein sicher auch diskutieren. Ich glaube, Österreich sollte aus Eigeninteresse in der Budgetpolitik ambitioniert sein und sich wieder einen budgetären Spielraum für Krisen erarbeiten, die wir nicht vorhersehen können. Von diesen Krisen haben wir in den letzten fünf Jahren zwei gehabt. Die nächste Budgetkonsolidierung wird nicht einfach, aber vergleichbare Situationen gab es in den letzten 30 Jahren einige.
2022 hätte man ja Spielraum schaffen können. Sie sind kein ÖVP-Mitglied und haben einen Expertenstatus. Was hat Sie eigentlich daran gehindert, den Mahner zu geben?
Diskussionen gab es immer. Im Herbst 2022, ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, gab es Horrorszenarien für den Winter in Österreich – von Produktionsausfällen bis zu Gaslieferstopps. Die Regierung musste handeln. Aber ja, im Nachhinein waren die Maßnahmen an manchen Stellen zu umfangreich, haben die Inflation zusätzlich erhöht und zu einer budgetären Belastung geführt, die man sich sparen hätte können. Die Oppositionsparteien wollten damals aber noch viel umfangreichere und kostspieligere Maßnahmen haben.
Und die Bundesländer haben parallel dazu Hilfspakete beschlossen. Wie verhindert man künftig solche Ausgaben-Exzesse? Mit einer Ausgabenbremse wie in der Schweiz oder Schweden?
Solche starren Regeln werden oft den Notwendigkeiten, die man hat, nicht gerecht. Wir brauchen aber sicher eine offene Debatte über die Konsolidierung und künftig einen anderen Zugang zur Budgeterstellung. Durch die erfolgreiche und richtige Abschaffung der kalten Progression und die automatische Valorisierung der Sozialleistungen fällt budgetärer Spielraum weg. Die Finanzminister müssen noch strikter auf die Ausgaben schauen.
Fänden Sie es sinnvoll, Arbeits- und Wirtschaftsministerium wieder zu trennen?
Ich finde, die Kombination hat durchaus Vorteile. Ein Beispiel ist die Lehre, der Arbeitsteil des Ressorts ist für die überbetriebliche und der Wirtschaftsteil für die betriebliche Lehre zuständig. Im gleichen Ressort kann man kohärenter agieren und auf kürzerem Wege kommunizieren.
Sie sind also gegen eine Trennung?
Ich will den Verhandlungen nicht vorgreifen. In vielen Bundesländern vereinen die Landesräte auch die Kompetenz für Arbeit und Wirtschaft in einer Person. Das ist ein Zeichen dafür, dass es grundsätzlich Synergien gibt.
Können Sie sich ein politisches Comeback vorstellen?
Ich bin ab September 2025 für sechs Jahre für die Position des Gouverneurs bestellt und denke wirklich noch nicht über diesen Zeitraum hinaus.
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