"Wir sind in der Phase der Desillusionierung", sagen Experten

Gesundheitsminister Anschober und Experten über die psychosozialen Folgen der Krise und wie diese bewältigt werden sollen.

Beraterstab für psychosoziale Corona-Folgen

Die Corona-Krise führt zu psychosozialen Belastungen quer durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen. Ein Viertel der Bevölkerung (26 Prozent) leidet derzeit an depressiven Symptomen, 23 Prozent an Angstsymptomen und 18 Prozent an Schlafstörungen, ergab jüngst eine Studie der Donau-Universität Krems unter 1.500 Menschen.

Sieben Expertinnen und Experten gehören dem neu geschaffenen Beirat für die psychosoziale Gesundheit an. Das erste Treffen hat am Freitag vor der Pressekonferenz stattgefunden.

"Nacht 12 Monaten merken wir eine Art von Müdigkeit in der Gesellschaft", so Anschober. "Die psychosozialen Folgen könnten zunehmen. Deshalb wollen wir diesen Bereich in den Mittelpunkt rücken."

"Wir sind in der Phase der Desillusionierung", sagen Experten

Juen, Anschober, Musalek

Im virologischen Beraterstab sind bereits psychologische Experten, so der grüne Minister. Der nun eigens geschaffene Beraterstab soll nun Empfehlungen und Maßnahmen erarbeiten.

Diesem Beraterstab gehören sieben Fachexperten an: Bildungspsychologin Barbara Schober, Georg Psota (Leiter des psychosozialen Notdienstes in Wien), Paul Plener (Kinder- und Jugendpsychiater am AKH Wien), Gernot Koren (Pro Mente), Eva Höltl (Arbeitsmedizinerin) sowie Barbara Juen (Gesundheitspsychologin) und Michael Musalek, der dem Beirat vorsteht.

Warum erst jetzt der Beraterstab gegründet wurde, beantwortet Anschober wie folgt: "Wir hatten immer schon psychologische Experten im Beirat. Wir wollen durch diesen Beirat noch aktiver und präziser als bisher handeln."

Es gehe um die "Stimmung in diesem Land, einer Team-Stimmung", so Anschober. "Wir schaffen die Krise nur gemeinsam und mit Solidarität. Unser Gegner ist das Virus."

Honeymoon- folgt Desillusionierungsphase

"Katastrophen verlaufen in Phasen", so Barbara Juen. Die erste Phase sei die "Honeymoon"-Phase, da sei die Hilfsbereitschaft besonders groß. Gefolgt sei diese von einer "Desillusionierungsphase. Wir sind derzeit in der Desillusionierungsphase. Die Leute fühlen sich machtlos. Das ist eine gefährliche Haltung, die in Depression und Aggression münden kann." Es sei normal, dass die Frustration derzeit groß ist.

Anti-Corona-Gegner müssten "ernst genommen werden", so Juen, "wir müssen lernen, dass wir alle in einem Boot sitzen."

Besonders betroffene Gruppen

Weltweit haben dieselben Gruppen Probleme, 16- bis 30-Jährige, das Gesundheitspersonal, Ältere und psychisch Kranke seien besonders betroffen, so Juen.

Psychiatrische, psychologische Versorgung sei wichtig für bereits Erkrankte und vulnerable Gruppen.

"Die Resilienz einer Gesellschaft zeigt sich in den Gemeinschaftsaktivitäten", sagt die Gesundheitspsychologin. Österreich zeichne sich durch hohes zivilgesellschaftliches Engagement aus. "Wir müssen bestehende Ressourcen unterstützen und die Gesamtbevölkerung beachten." Es gehe konkret um fünf Bereiche.

Sicherheit: äußere Sicherheit (wirtschaftliche, gesundheitliche Sicherheit) und innere Sicherheit (ehrliche Kommunikation, Verbundenheit) Die physische Distanzierung führe zu einer psychischen Distanz. "Das darf nicht sein", so Juen.

Ruhe: Menschen müssten genug Normalität erleben dürfen. Weihnachten und Ostern müssten stattfinden können ebenso wie die Möglichkeit, Sport betreiben, Kultur und Kunst erleben zu können.

Selbst- und kollektive Wirksamkeit: Dieser Bereich schaffe derzeit die größten Probleme, so Juen. "Wir müssen vom passiven Opfer zum aktiven Überlebenden werden."

Hoffnung: Hierbei gehe es um eine "positive Perspektive für die Zukunft". Am Ende gehe es darum, in der Krise zu wachsen. Trauer und Verlust bleiben bestehen, doch "positive Effekte" würden sich einstellen, weil man sich Freundschaften und ähnlichem stärker bewusst sei.

Musalek: "Es geht uns bei längeren Belastungen die Luft aus"

"Eine Infektionskrise ist immer auch eine psychosoziale Krise", sagt Michael Musalek. "Es geht uns bei längeren Belastungen buchstäblich die Luft aus." Die Covid-Krise sei oft mit einem Marathon verglichen worden. Musalek will selbiges lieber mit Handball vergleichen. Es gibt zwei Mal 30 Minuten Spielzeit. "Wir befinden uns 10 Minuten nach der zweiten Spielzeit."

Was wir nicht wissen ist, ob es noch eine Nachspielzeit gibt. "Ein Nachspiel ist wesentlich besser, als die Partie zu verlieren", sagt Musalek weiter. Es gebe mehrere Problemfelder.

"Üblicherweise braucht es ein bis eineinhalb Jahre, um die Folgen der Pandemie auch hinsichtlich von Suiziden evaluieren zu können", sagt Musalek auf Nachfrage.

Psychische Problemfelder

Das erste Problemfeld betrifft Kinder- und Jugendliche durch Home-Schooling und eingeschränkte Sportmöglichkeiten. "Was wir bis jetzt vielfach vergessen haben sind die Lehrlinge".

Zudem sei die Vereinsamung von Älteren, der Verlust des Arbeitsplatzes und der Verlust von Beziehungen von immanenter Bedeutung, weil sie durch die Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden. "Wir werden alle reizbarer. Wir müssen in der Prävention tätig werden."

Zuallererst werde der Kinder- und Jugendbereich untersucht werden, sagt Musalek. Sportliche Betätigung der Jugendlichen in Vereinen solle wieder möglich gemacht werden, da diese maßgebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit habe.

Erste positive Auswirkungen auf die Psyche der Jugendlichen sei seit der Schulöffnung bereits spürbar, sagt Anschober auf Nachfrage. Es gehe um personelle Ressourcen -  nicht um die finanziellen Möglichkeiten, die nun im Fokus stehen sollen.

"Wir werden in der Pandemie reizbarer"

Es gehe darum, Lösungsstrategien zu erarbeiten, sagt Michael Musalek, um in dieser "Erschöpfungsphase wieder Kraft zu schöpfen". Das Gefühl, etwas selbst schaffen zu können, sei den Menschen abhandengekommen. Die Covid-Tests seien ein Beispiel zur Krisenbewältigung.

Der zweite Kraft-Bereich sei das "Schöne, Lustvolle und Freudvolle", so Musalek. Sich bewegen, etwas erleben zu können sei individuell. Es gehe demnach nicht um "Zwangsbeglückungen", sondern um individuell "freudvolle Erlebnisse".

15 Millionen Covid-Tests österreichweit

2.093 Neuinfektionen wurden in den vergangenen 24 Stunden eingemeldet, schickt Gesundheitsminister Rudolf Anschober voraus. "Das ist eine besorgniserregende Entwicklung", so der grüne Minister weiter. "Wir bleiben auf einem extrem hohen Niveau, was die Testungen betrifft", hebt Anschober als positive Entwicklung hervor. 15 Millionen Testungen seien bis dato in Österreich durchgeführt worden.

Durch die Dominanz der Mutationen steige automatisch die Infektionsrate, da die Mutationen ein bis zu 40 Prozent höheres Infektionsrisiko mit sich bringen. Man wisse sehr genau, wie hoch die Ausbreitung ist. Sie liege derzeit bei 50 Prozent. Die "Phase bis Ostern werde eine sehr schwierige" - durch eine hohe Impfquote und wärmere Temperaturen werde sich die Situation indes verbessern.

Am Wochenende werde evaluiert, ob die Infektionszahlen den hohen Testraten oder den Mutationen geschuldet sind. Bei einer 7-Tages-Inzidenz von 200 Infektionen müssten weitere Maßnahmen ergriffen werden.

Grüner Pass für Österreich?

Der "Immunitätsnachweis", so Anschober, werde gerade hinsichtlich rechtlicher, ethischer und technischer Fragen im Ministerium überprüft. Die Anwendungsfrage stelle sich erst bei einer Durchimpfungsrate von 50 bis 70 Prozent. Derzeit liegt die Impfungsrate in Österreich bei 4,5 Prozent.

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