Lehner zum Gesundheitssystem: "Wir müssen weg von der Vollkaskomentalität"
Peter Lehner ist Obmann der Sozialversicherung der Selbstständigen und Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Mit dem KURIER sprach er über offene Arztstellen, die übermäßige Zahl an Arzt-Besuchen – und sinnvolle Selbstbehalte:
KURIER: Herr Lehner, die Bundesregierung will mit 100.000 Euro-Prämien dafür sorgen, dass offene Landarzt-Stellen besetzt werden. Sie kritisieren das scharf. Warum?
Peter Lehner: Wir haben Gesundheitssystem ein strukturelles Problem, und das lösen wir nicht, indem wir Ärzten einmal Geld in die Hand drücken. Viel wichtiger ist, dass wir mehr Flexibilität leben. Der Landarzt, der ohne Rücksicht auf seine Familie 80, 90 Stunden pro Woche arbeitet, ist Geschichte. Es braucht neue Arbeitszeitmodelle, aber keine Einmalzahlungen. Die Bundesregierung hat hier einfach eine gefährliche Erwartungshaltung erzeugt.
Inwiefern?
In Zukunft werden nicht nur die Ärzte 100.000 Euro haben wollen, die tatsächlich in strukturschwache Regionen gehen, sondern alle. Im Sinne der Transparenz hätte man vorab zumindest die Kriterien veröffentlichen müssen, nach denen die Prämien bezahlt werden. Jetzt ist es zu spät.
Die Prämie war nicht das Einzige, was sie an der Gesundheitsreform kritisiert haben. Sie waren insgesamt unzufrieden.
Und ich bleibe es, weil die Finanzierung ungerecht verteilt ist. Wir zahlen als Sozialversicherung in diesem Jahr 7,65 Milliarden Euro für die Finanzierung der Spitäler und wenden gleichzeitig 6,4 Milliarden Euro für ärztliche Leistungen auf. Das heißt: Wir bezahlen mittlerweile deutlich mehr für den Erhalt der Spitäler als für den niedergelassenen Bereich, obwohl wir in den Spitälern nichts entscheiden und kaum Einblick haben.
Die Sozialversicherung weiß nicht, was in Österreichs Spitälern gemacht wird?
Korrekt. Wir zahlen in eine Blackbox, das System ist intransparent. Es gibt keinen Vergleich zwischen den Ländern was medizinische Leistungen, Operationen und dergleichen angeht. Das führt dazu, dass die Menschen immer noch glauben, es sei sinnvoll, wenn möglichst in jedem Bezirk ein kleines Spital steht.
Was wäre besser?
Das Schlüsselwort ist die Spezialisierung. Nur wenn ich eine Operation sehr oft mache, bin ich gut darin. Die entsprechenden Fallzahlen schaffe ich aber nur, wenn ich nicht über alles anbiete, sondern Schwerpunkte bilde.
Nach der Pandemie haben Ärzte und Wissenschafter gefordert, vorhandene Gesundheitsdaten besser zu nutzen. Passiert das?
Nein, diesbezüglich sind wir noch zu zaghaft. Ja, es gibt eine Arbeitsgruppe, die sich damit beschäftigt, welche Daten verschnitten werden können. Aber was den wissenschaftlichen Fortschritt, die Forschung und Ähnliches angeht, lassen wir große Chancen liegen.
Hat Österreich genug Ärzte? Das wird vielfach ja bezweifelt.
Die Statistik zeigt, dass wir sehr viele Ärzte in diesem Land haben – auch wenn der subjektive Eindruck mitunter ein anderer ist. Das große Problem in Österreich ist die Inanspruchnahme von Leistungen. Von 2006 bis 2022 ist die Anzahl der durchschnittlichen Arztbesuche pro Patient und Jahr von 11,5 auf 14,5 angestiegen. Es gibt eine „Alles-gratis-und-jederzeit“-Mentalität. Sie ist das Problem.
Vielleicht sind die Menschen heute kränker als 2006?
Unsere Einschätzung ist eine andere. Es ist heute für viele selbstverständlich, dass man sich bei jedem Problem eine Zweit- und Drittmeinung einholt. Dass damit nicht immer Verbesserungen, sondern auch Verunsicherung erzeugt wird, verschärft die Problematik.
Aber ist das nicht eine Konsequenz dessen, dass viele Versicherte Symptome googeln und sich über ihre Krankheiten kundig machen?
Ich befürworte es ausdrücklich, dass Patienten mündiger sind und sich mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen. Was fehlt ist das Kostenbewusstsein. Die Wenigsten wissen, was die ganzen Leistungen kosten, die beansprucht werden.
Ist das ein Plädoyer für mehr Selbstbehalte?
Ich halte Selbstbehalte für sinnvoll, weil sie steuern. Aber darum geht’s nicht. Das große Thema lautet: Wie gelingt es uns, Patienten dorthin zu bringen, wo sie die bestmögliche Versorgung bekommen? Wir müssen weg von der Vollkaskomentalität.
Was meinen Sie damit?
Der Körper ist kein Auto. Wenn Patienten heute der Rücken weh tut, wollen sie „das ganze Programm“: Facharzt-Besuche, MRTs – egal, ob‘s diagnostisch sinnvoll ist oder nicht. Aber der Körper ist kein Auto. Ich kann ihn nicht zu Schrott fahren und bekomme danach einen neuen. Und: Die Sozialversicherung funktioniert nach dem Solidarprinzip. Ich bekomme die Leistung, die ich wirklich benötige und nicht die, die ich subjektiv als mein Recht empfinde. Das vergessen heute viele.
Was ist der Grund, warum Patienten so lange auf Facharzt- und OP-Termine warten?
Das hat – auch – mit dem gerade Besprochenen zu tun. Die Patienten beanspruchen das System sehr intensiv – auch wenn sie es möglicherweise nicht brauchen.
Themenwechsel: Die aktuelle Masern-Welle zeigt, dass die Österreicher Impfmuffel sind. Wie ist das zu erklären?
Das Thema ist doppelt spannend. Impfen ist die einfachste und wichtigste Vorsorgemaßnahme. Gleichzeitig sehen wir, dass selbst Gratis-Impfungen nicht das Allheilmittel sind – allein die niedrigen Impfraten bei der Influenza zeigen das.
Die Konsequenz?
Zunächst einmal müssen Gesundheitsthemen aus der Tagespolitik herausgehalten werden. Die Gesundheitsthemen sind bei der Sozialversicherung und den Ärzten besser aufgehoben. Und wir müssen die Gesundheitskompetenz der Menschen erhöhen. Das beginnt im Kindergarten, wo der Sinn von gesunder Ernährung und Bewegung kommuniziert werden muss bis hin zu dem Bewusstsein, welche Konsequenzen Rauchen, übermäßiges Trinken und Ähnliches haben. Da ist noch viel zu tun.
Kommentare