Länder am Rand der EU müssen weiter die Flüchtlingslast tragen

Nach dem großen "Durchwinken" 2015/'16 mussten viele Asylwerber wieder retour ins Erstland.
Ausnahmesituationen wie die Flüchtlingsströme von 2015 setzen Asylregeln nicht außer Kraft, sagt der Europäische Gerichtshof. Flüchtlinge müssen dort um Asyl ansuchen, wo sie die EU zuerst betreten.

Während derzeit alle Augen auf die Mittelmeerroute gerichtet sind, ruft ein Verfahren am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg wieder die Zustände auf der Balkanroute ins Gedächtnis – und fällt ein richtungsweisendes Urteil.

Egal, wie stark der Ansturm – im Herbst 2015 bis Anfang 2016 über die Balkanroute, derzeit über das Mittelmeer –, die Dublin III-Verordnung gilt. Länder wie Italien, die sich am Rand der EU befinden, müssen damit weiterhin die größte Last der Flüchtlingsbewegungen schultern, weil Asylanträge im Erstland zu stellen sind. Das Urteil gibt aber auch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel rückblickend recht, die damals mit dem berühmten Satz: "Wir schaffen das" den Flüchtlingsstrom gen Deutschland gelenkt hat. Ein Land darf sich auch freiwillig für zuständig erklären, so der EuGH-Spruch.

Grenzen dicht

Dieses "Durchwinken" hatte im März 2016 ein jähes Ende, als die Balkanroute gesperrt, Grenzkontrollen eingeführt und das EU-Türkei-Abkommen wirksam wurden. In dieser Zeit, so war die EuGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston überzeugt, befand sich Europa im Ausnahmezustand. Das "Durchwinken" könne nicht als illegale Einreise gelten.

Sprich: Wenn Flüchtlinge von Ländern wie Deutschland oder Österreich quasi "eingeladen" wurden, dürften dadurch nicht Länder wie Kroatien, die am Rand der EU liegen, zum Handkuss kommen. In Gang gesetzt haben das EuGH-Verfahren der Syrer Ahmad S., der an der Grenze zu Spielfeld abgewiesen wurde und in Slowenien festsitzt, und zwei afghanische Schwestern. Sie haben gegen ihre Abschiebung Beschwerde eingelegt. Ihre Hoffnung, in Österreich einen neuen Asylantrag stellen zu dürfen, ist jetzt zerplatzt.

494 Flüchtlinge retour

Die Richter am EuGH folgten nicht der Linie der Generalanwältin, sondern entschieden anders: Sie bestätigten die geltenden Asylregeln in der EU, dass das Erstland für die Prüfung der Anträge zuständig ist. Da die kroatischen Behörden Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze chauffiert haben, damit sie weiterreisen können, sei das bestenfalls eine "Duldung" und könne nicht als Visum für ein Wunschland in Europa gelten. Österreich hat im Jahr 2016 und im ersten Halbjahr 2017 insgesamt 494 Asylwerber nach Kroatien zurückgeschickt. Das Innenministerium sieht sein Vorgehen durch den EuGH-Spruch "vollinhaltlich" bestätigt und wird seine Abschiebepraxis fortsetzen, sagt Sprecher Karlheinz Grundböck.

Länder am Rand der EU müssen weiter die Flüchtlingslast tragen
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Für einen "Skandal" und eine "absurde Rechtssprechung" hält das hingegen Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich. Wie viele Menschen genau betroffen sind, ist unklar. NGOs sprechen von "mehreren Hunderten". Österreich kann sich auf den EuGH-Spruch berufen, in Einzelfällen aber trotzdem Asylanträge zulassen. "Es ist Wahlkampf, da wird es keinen Pardon geben. Egal, ob bei Familien oder Kindern", glaubt Langthaler. Und der Verein "Crossing Borders Spielberg" befürchtet, dass jene, die zurückgeschoben wurden, in Kroatien kein faires Asylverfahren bekommen (siehe Bericht rechts oben).

Noch immer kommen Flüchtlinge über die Balkanroute – unbemerkt über die grüne Grenze – nach Europa. Ihr erstes Ziel ist manchmal Bulgarien, öfter aber Griechenland. Die allermeisten Flüchtlinge oder Migranten aber landen derzeit in Italien.

Schock für Italien

Entsprechend enttäuscht hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofes die Regierungen in Athen und Rom. Die Hoffnungen waren groß gewesen, dass das Dublin-Abkommen gekippt würde. Nun aber sind die beiden Mittelmeerstaaten einmal mehr damit konfrontiert, nahezu allein alle Asylansuchen für die EU zu bearbeiten. Besonders Italien, wo heuer bereits fast 100.000 Migranten landeten, ist mit dieser Situation vollkommen überfordert. Bis zu 200.000 Migranten könnten es heuer noch werden.

Brüssel bietet vorerst nur eine Art "Nothilfe": 100 Millionen Euro und die Entsendung von weiteren 40 bis 50 Experten, um die Asylverfahren schneller vornzutreiben. "Wir wussten von Anfang an, dass das Dublin-System Mängel hat", gestand gestern EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopouplos ein, "deshalb hat die Kommission auch eine komplette Überholung des europäischen Asylsystems vorgeschlagen". Doch diese Reform, die schon heuer im Frühling hätte fertig sein sollen, steckt noch immer fest. Die EU-Mitgliedsstaaten konnten sich noch immer nicht auf eine gemeinsame Position einigen.

So lange neue Asylregeln nicht wirksam werden, gilt also für Athen und Rom weiterhin: Asylsuchende, die in Italien und Griechen ankommen, müssen hier ihren Antrag stellen. Weiterziehen, in der Hoffnung, in einem anderen Land ihrer Wahl, Asyl zu bekommen, wird Flüchtlingen weiterhin nicht möglich sein.

Länder am Rand der EU müssen weiter die Flüchtlingslast tragen
Nach dem großen "Durchwinken" 2015/'16 mussten viele Asylwerber wieder retour ins Erstland.

Tim Cupal (ORF) über das EuGH-Urteil

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