Klischees über Flüchtlinge: "Müssen lernen, Stereotypen zu verlernen"
Die Ukraine, der Nahe und Mittlere Osten, verschiedene Staaten Afrikas – aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt fliehen Menschen vor Kriegen. Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa sind seit Freitag mehr als 600 Flüchtlinge eingetroffen.
Wie aber werden Geflüchtete in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Zu dieser Frager forscht an der Uni Innsbruck die Bildungswissenschaftlerin Frauke Schacht.
Im KURIER-Interview spricht sie über eine verhängnisvolle Unterscheidung zwischen Geflüchteten erster und zweiter Klasse, wie Stereotypen entstehen und wie sie durchbrochen werden können.
Vorurteil 1: „Sie sind mittellos“
Das Bild vom komplett mittellosen Flüchtling hält sich hartnäckig in unserer Gesellschaft (zu den Gründen siehe oben). Wenn (vor allem von rechtspopulistischen Kreisen) auf Smartphones oder teure Autos im Besitz Geflüchteter hingewiesen wird, passiere das, „um die grundlegende Solidarität mit geflüchteten Menschen zu untergraben“, erklärt Politologin Natascha Strobl in einer Analyse für den Thinktank Moment. Außen vor gelassen wird dabei, dass eine Flucht ohne Navigationshilfe am Handy kaum möglich ist – bzw. auch Menschen, die sich teure Autos leisten konnten, vor dem Krieg fliehen, um ihr Leben zu schützen.
Vorurteil 2: „Sie sind weniger gebildet“
Schon 2015 wurde das Argument mangelnder Bildung oft ins Treffen geführt, und auch bei der Fluchtbewegung aus der Ukraine ist immer wieder Überraschung zu bemerken, „dass die ja so gut Englisch sprechen“. Dabei ist das ukrainische Schulsystem leistungsfähiger als jene in den meisten anderen Flucht-Herkunftsländern, und die Ergebnisse der PISA-Studie sind besser als in manchen EU-Staaten. Übrigens gilt auch für Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten, dass sie im Schnitt deutlich besser gebildet und ausgebildet sind als die Bevölkerung ihrer Heimatländer.
Vorurteil 3: „Sie wollen in unser Sozialsystem“
Als Flüchtlinge gelten per Definition der Genfer Flüchtlingskonvention nur Personen, die ihr Land „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verlassen. Wer „nur“ aus Furcht vor Armut kommt, hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Davon einmal abgesehen, zeigt etwa eine Studie des Forschungsinstituts Eco Austria und des Instituts für Höhere Studien (IHS), dass es ohne Zuwanderer, die mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen die Pensionen finanzieren, künftig eng wird.
Vorurteil 4: „Sie bringen Corona mit“
Die Erzählung, Menschen auf der Flucht würden das Coronavirus und andere Krankheiten mitbringen, ist statistisch nicht nachweisbar. Die Statistik-Institute unterscheiden in der Regel nämlich nicht zwischen Migranten, Flüchtlingen und anderen Bevölkerungsgruppen. Allerdings besteht für Geflüchtete ein besonders hohes Ansteckungsrisiko, was unter anderem an der zentralen Unterbringung in Flüchtlingsheimen liegt. Laut einer Studie des Robert Koch Instituts ist die Ansteckungsgefahr bei einem Ausbruch in einem Flüchtlingsheim am größten, da dort die durchschnittliche Fallzahl pro Ausbruch am höchsten sei.
KURIER: Frau Schacht, wie nehmen Sie aktuell die Situation Geflüchteter in Österreich wahr?
Frauke Schacht: Ich würde von einem binären Humanitarismus sprechen. Das heißt, die gegenwärtige Welle der Solidarität mit Menschen, die
aus der Ukraine fliehen, ist wichtig. Allerdings herrscht in anderen Teilen der Welt ebenfalls Krieg und das teilweise seit Jahrzehnten. Zwischen den Geflüchteten entlang festgefahrener und stereotyper Vorstellungen zu unterscheiden, ist eine äußerst gewaltvolle Handlung. Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben.
Anhand welcher Merkmale würden Sie sagen, wird hier unterschieden?
Es gibt etwa laut der Nelson Mandela-Stiftung beunruhigende Berichte, dass in der Ukraine „People of Color“ Plätze in Bussen verweigert worden seien und dass die Betroffenen an der polnischen Grenze abgewiesen worden seien. Dadurch wird einmal mehr sichtbar, was sich seit der Zeit des Kolonialismus etabliert hat: Dem Leid von weißen Menschen in Konfliktsituationen wird für gewöhnlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Leid von schwarzen Menschen. Weiß und schwarz ist hier aber nicht als biologische Kategorie zu verstehen, sondern als soziale und politische Kategorie. Die Bezeichnungen verweisen auf eine unterschiedliche Positionierung in der Gesellschaft und unterschiedliche Erfahrungen mit Rassismen. Aber auch die räumliche Nähe spielt eine Rolle.
Gesprochen wurde in den vergangenen Wochen auch über teure Autos mit ukrainischen Kennzeichen, die in der Wiener Innenstadt parken sollen. Warum ist das so ein Thema?
Ursprünglich war die Kategorie „Flüchtling“ eine rechtliche Kategorie. Aber dieser Rechtsstatus ist schon längst nicht mehr gemeint, wenn über Geflüchtete gesprochen wird. Die Kategorie „Flüchtling“ ist ein gesellschaftlicher Schauplatz geworden, auf dem Kämpfe um Zugehörigkeit und Ressourcenverteilung ausgetragen werden. Innerhalb dieses Diskurses dominieren zwei Narrative: Geflüchtete als arme, leidende Opfer und Geflüchtete als potenzielle Täter. Letzteres ist eng verbunden mit dem Stereotyp des „gefährlichen fremden Mannes“. Kinder und Frauen werden tendenziell eher in der Opferrolle wahrgenommen. Auch teure Autos passen nicht in dieses Narrativ und irritieren gewissermaßen die scheinbare Normalität. Diese Irritationen haben mehr mit stereotypischen Vorstellungen zu tun als mit der Realität.
Aber woher kommt denn der Gedanke, alle Flüchtlinge müssten arm sein?
Da (re-)aktualisieren sich unter anderem historisch koloniale Bilder, die zwischen „uns“ und „ihnen“ unterscheiden: „Wir“ im Globalen Norden als zivilisiert, fortschrittlich, entwickelt – und „die anderen“ im Globalen Süden als unzivilisiert, rückschrittlich usw. Statt diese Bilder zu reproduzieren, müssten wir uns mit diesen Ungleichheiten auseinanderzusetzen, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Denn die Art und Weise, wie hier im Globalen Norden konsumiert und produziert wird, hat einen entschiedenen Einfluss auf diese Fluchtursachen. Aber diese Auseinandersetzung ist unbequem.
Das heißt, wir bekommen dann ein schlechtes Gewissen?
Ja – auch wenn ein schlechtes Gewissen nicht gerade produktiv diesbezüglich ist. Wir müssen verstehen, dass die Gründe zu fliehen auch viel mit uns zu tun haben.
Glauben Sie, dass aufgrund dieser Stereotypisierung die Stimmung den Geflüchteten gegenüber auch jetzt kippen könnte – so wie 2015?
Ich glaube nicht, dass die Stimmung 2015 irgendwann gekippt ist. Vielmehr haben die „Willkommenskultur“, wie das genannt wurde, und das strenge europäische Grenzregime gleichzeitig stattgefunden. Das kann beides nebeneinander existieren. Auch historisch betrachtet fand die Deklaration der Menschenrechte parallel zur Ausbeutung, Versklavung von Millionen von Menschen statt. Die Idee Europas war schon immer ein ambivalentes Projekt, ebenso wie die Politiken. Angela Merkel hat beispielsweise 2015 zwar die Grenzen kurzzeitig geöffnet, aber die Waffenexporte hat sie nicht verboten.
Wie kann die Bildung von Stereotypen und der damit verbundene stigmatisierte Diskurs durchbrochen werden?
Das muss auf vielen Ebenen passieren. Von der Intervention beim Familienessen bis zur zentralen Frage nach der medialen Repräsentation. Wir müssen Stereotypen und Rassismen etwas entgegensetzen; wir müssen lernen, sie wieder zu verlernen.
Frauke Schacht, geboren 1989, lehrt im Bereich der Refugee Studies an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Sie ist Vorstandsvorsitzende des Projekts FLUCHTpunkt (Hilfe, Beratung und Intervention für Geflüchtete)
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