Seit Wochen tobt eine Debatte um „Normaldenkende“ – ausgelöst von der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Die Aufregung dürfte kalkuliert sein – der Kampf um die „Mitte“ ist bereits Teil der ÖVP-Strategie für die kommende Nationalratswahl, wie Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler erklärt. Warum sie Kickl für „radikal“ hält und warum sie bei der Justiz-Reform hart bleibt.
Karoline Edtstadler: Im Duden steht: „Das, was sich die allgemeine Meinung als das Richtige vorstellt.“ Entscheidend ist aber, was steckt hinter diesem Begriff? Gewisse Meinungen sind sehr laut im Vordergrund, und die schweigende Mehrheit hat keine Stimme. Es ist angebracht, dass wir jetzt – ausgelöst durch eine zugespitzte Debatte – die Dinge auf den Punkt bringen, die die Mehrheit beschäftigen. Wenn sich ein Herbert Kickl dabei auf die Zehen getreten fühlt, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Apropos Kickl: Er hat bereits 2021 mit den Begriffen „normal“, „Normaldenkende“ und „schweigende Mehrheit“ hantiert – ebenso die MFG und die rechtsextreme AfD. Warum klaut die ÖVP ihre Slogans bei den Rechten?
Weder eine Farbe, noch eine Begrifflichkeit gehört einer Partei.
Diese Begriffe sind aber schon sehr spezifisch. Gerade in der Corona-Phase wurden sie verwendet, um gegen Corona-Maßnahmen Stimmung zu machen.
Ja, und es gab während der Corona-Phase viele, die sich nicht gehört gefühlt haben, und die geschwiegen haben. Wir dürfen diese Menschen nicht den rechten Rändern überlassen.
Ist das der strategische Kurs, den die ÖVP jetzt einschlägt?
Wir sind knapp eineinhalb Jahre vor der Wahl, alle stecken jetzt ihre Positionen ab. Kickl streut den Menschen Sand in die Augen, er krakeelt von der Seitenlinie, ohne eine einzige Lösung einzubringen.
Kickl ist also nicht normal?
Kickl ist für mich radikal, und Radikalität spaltet. Wir müssen wieder zu einem gemeinsamen Ganzen finden.
Sind die Grünen normal?
Ich arbeite mit allen sehr gut zusammen. Die Arbeit ist getragen von Respekt, insbesondere mit Werner Kogler, aber auch mit Alma Zadić.
Es wird viel diskutiert über eine neuerliche türkis-blaue Koalition. Wäre Ihnen eine Neuauflage von Türkis-Grün – theoretisch – lieber?
Ich halte nichts davon, sich ein Jahr vor der Wahl nur mehr mit Spekulationen zu umgeben, wer mit wem wie könnte. Die Würfel sind erst gefallen, wenn die Wahlen geschlagen sind. Türkis-Grün könnte sich nach derzeitigem Umfragestand nicht ausgehen. Aber ich möchte – mit einer Ausnahme – nichts ausschießen.
Die Ausnahme heißt Kickl. Vor der Wahl 2019 hat die ÖVP übrigens ausgeschlossen, dass Sigrid Mauer Ministerin wird. Jetzt ist sie Klubchefin.
Ich habe das nie gemacht, und das würde ich auch nicht.
Was haben Sie im verbliebenen Jahr in der Koalition noch fix geplant?
Ein ganz großes Vorhaben, das ich unbedingt noch umsetzen will, ist die Informationsfreiheit. Vizekanzler Werner Kogler und ich arbeiten mit Hochdruck daran. Unser Ziel ist, es im Herbst in den parlamentarischen Prozess zu bringen und mit der Opposition zu verhandeln.
Wie ist der Stand beim Projekt Bundes- bzw. Generalstaatsanwaltschaft?
Unverändert. Wir sind im Gespräch. Die Justizministerin und ich haben unsere roten Linien gezogen, aber wir haben noch ein Jahr Regierungsarbeit vor uns. Es sind im Paket aber auch viele Maßnahmen drinnen, die sich auch im Regierungsprogramm wiederfinden.
Deshalb finde ich, wir sollten uns Dingen zuwenden, die leichter umsetzbar sind. Ich denke da an den Kostenersatz bei Freispruch und Einstellung im Strafverfahren.
Das heißt, der Bundesstaatsanwalt kommt nicht mehr?
Das kommt darauf an. In manchen Bereichen sind die roten Linien aus derzeitiger Sicht nicht überwindbar, wenn nicht einer seine Position gänzlich ändert.
Und Sie haben das nicht vor?
Ich bin nicht bekannt dafür, meine Meinung zu ändern.
Die Justiz ist skeptisch wegen Ihrer Forderung nach strengeren Regeln bei der Handysicherstellung, jetzt könnte der Verfassungsgerichtshof Fakten schaffen, indem er die Regelung als verfassungswidrig aufhebt. Das käme Ihnen gelegen?
Es geht nicht darum, die Strafverfolgungsbehörden zu behindern, sondern Entwicklungen zu berücksichtigen. Die jetzige Regelung stammt aus einer Zeit, in der wir mit dem Handy nur telefoniert und Snake gespielt haben. Sie ist nicht mehr zeitgemäß und kann so auf keinen Fall bleiben. Wir warten die Entscheidung des VfGH ab, ich werde aber so oder so dranbleiben.
Sie wollen die Regelung auch dann ändern, wenn der VfGH sagt, sie sei in Ordnung?
Ja, weil ich zutiefst davon überzeugt bin. Wenn nicht jetzt, dann spätestens in einer nächsten Regierung.
Sind Sie eine Schatten-Justizministerin – mit dem Auftrag, der grünen Ministerin auf die Finger zu klopfen?
Nein, ich habe ganz andere Schwerpunkte: Europa, Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen Antisemitismus, Informationsfreiheit. Mein Interesse rührt daher, dass ich Strafrichterin war und karenzierte Oberstaatsanwältin der WKStA bin. Die Justiz liegt mir am Herzen.
Wollen Sie in der nächsten Legislaturperiode Justizministerin werden?
Ich kann, will und werde nicht über zukünftige Positionen spekulieren. Mein Motto lautet: Strebe nichts an und schließe nichts aus.
Ich war schon im EU-Parlament und habe das gern gemacht, aber jetzt bin ich mit Leib und Seele Europa- und Verfassungsministerin.
Wollen Sie EU-Kommissarin werden?
Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass mich das Internationale interessiert.
Dann wäre Bundeskanzlerin vielleicht auch etwas für Sie? In den ÖVP-internen Umfragen haben Sie ja sehr gute Werte, wie man hört.
Wir haben einen Bundeskanzler, der alles tut, um das Land nach vorne zu bringen, und den unterstütze ich.
Vor fünf Jahren waren Sie Staatssekretärin unter Innenminister Herbert Kickl. Wie haben Sie sich seither entwickelt, was hat Sie besonders geprägt?
Manche Erfahrungen sind schmerzhaft, bringen einen aber weiter. Eine davon war diese Hochschaubahn der Gefühle im Juni 2019 nach der Ibiza-Affäre: Erst der große Wahlsieg der ÖVP bei der EU-Wahl, dann die Abwahl im Nationalrat. Ich habe gesehen, wie schnell es in der Politik vorbei sein kann. Man sollte die Dinge tun, für die man gewählt ist, und zwar so, dass man sich am Ende des Tages in den Spiegel schauen kann.
Informationsfreiheit: Anfang 2021 hat Türkis-Grün ein Gesetz für Informationsfreiheit in Begutachtung geschickt, mit dem auch das Amtsgeheimnis abgeschafft werden soll. Wegen viel Kritik und Widerstand von Ländern und Gemeinden wurde das Vorhaben immer wieder verschoben. Neues Ziel: Herbst
Bundesstaatsanwalt: Die Grünen nennen ihn lieber „Generalstaatsanwalt“. Im Prinzip geht es darum, eine neue, unabhängige Weisungsspitze bei Strafverfahren zu schaffen. Edtstadler will, eine Einzelperson an der Spitze, Justizministerin Zadić einen Dreiersenat
Beschuldigtenrechte: Zum Paket mit dem Bundesstaatsanwalt gehört auch mehr Rechtsschutz bei Handyabnahme und ein Kostenersatz bei Freispruch und Einstellung. Edtstadler will zudem ein Zitierverbot aus Strafakten für Medien – da sagen die Grünen aber kategorisch Nein
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