Kanzler Nehammer: "Es liegt derzeit keine atomare Gefahr vor"
KURIER: Herr Bundeskanzler, in den vergangenen Jahren wurde die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen immer mehr gesteigert. An der OMV ist die Republik mit 31,5 Prozent beteiligt. Die Politik hat in diese Entscheidungen nicht korrigierend eingegriffen. Ist Österreich in die strategische Falle von Putin getappt?
Karl Nehammer: Selbst im Kalten Krieg, wenn die Spannungen groß waren, haben die Gaslieferungen nie gelitten. Jetzt sehen wir, wir lebten in einer trügerischen Sicherheit. Niemand hat mit dem Überfall der Russischen Föderation in der Ukraine gerechnet. Diese Invasion führt nun zu einem Umdenkprozess, sich bei den Energielieferungen breiter aufzustellen. Das geht alles nicht kurzfristig, muss man ganz ehrlich sagen. Jetzt gilt es, die Versorgung für den nächsten Winter sicher zu stellen – deswegen reisen Leonore Gewessler, Elisabeth Köstinger und ich nach Katar, um Flüssiggaslieferungen zu bekommen. Wir machen dafür auch ein Energievorsorgegesetz, das uns die Einspeicherung erlauben wird, damit wir die Resilienz haben, sollte einmal kein Gas fließen.
Sie orten keinen Fehler der Politik, das OMV-Management nicht korrigiert zu haben?
Es gab keine operative Notwendigkeit, weil Russland immer geliefert hat und auch derzeit liefert. Das Problem der Abhängigkeit betrifft ja nicht nur Österreich, sondern ganz Europa. Das sind ja ungeheure Gasmengen, die da jeden Tag nach Europa kommen. Russland ist der größte Rohstoffexporteur weltweit, selbst für die USA von Wichtigkeit. Deswegen haben die USA Rohstofflieferungen von den Sanktionen auch ausgenommen.
Vor drei Tagen wurde das größte Atomkraftwerk in Europa von den Russen angegriffen. Muss Österreich damit rechnen, dass es in diesem Krieg zu einer Katastrophe wie in Tschernobyl kommen wird? Wie ist Österreich darauf vorbereitet?
Unsere Strahlenschutzbehörde beobachtet die Strahlenlage in Österreich und Europa rund um die Uhr. Derzeit begünstigt uns auch die Wetter- und Windlage, sollte etwas passieren. Außerdem ist die Bauart der modernen Atomkraftwerke anders als jene von Tschernobyl. Sollte eine Katastrophe passieren, verlaufen die Eskalationsstufen auch anders. Es gibt genaue Alarmpläne, sollte es zu einer Eskalation kommen. Daher sollte man jetzt keine Jodtabletten schlucken, denn es gibt einen Vorrat und genaue Ablaufpläne. Die Einschätzung der Strahlenschutzbehörde ist, dass derzeit keine atomare Gefahr für Österreich vorliegt. Putin spielt hier aber natürlich trotzdem mit dem Feuer.
Sie telefonieren regelmäßig mit Präsident Wolodymyr Selenskij. Wie lange kann sich Kiew noch gegen den Angriff wehren?
Jedes Telefonat ist schwierig, weil natürlich die Gefahr besteht, dass so auch der Standort des Gesprächspartners bestimmt werden kann. Man spürt die Anspannung in den Telefonaten, und man spürt das Bewusstsein, dass sie nicht mehr lange leben könnten. Das ist eine reale Furcht und eine reale Bedrohung. Selenskij weiß, dass sein Leben an einem seidenen Faden hängt, weil die russischen Spezialkräfte versuchen ihn zu töten. So ein Gespräch lässt einem jedes Mal sehr nachdenklich zurück. Die Lage in Kiew selbst ist dramatisch – vor allem auch die Versorgungslage mit Lebensmitteln und Medikamenten. Vitali Klitschko versucht die Welt zu alarmieren, weil eine Millionenstadt vor der Einkesselung und einer humanitären Katastrophe steht. Er hat gebeten, Leichensäcke zu liefern, weil bereits über 2.000 russische Soldaten gefallen sind. Der Mut und die Leidensfähigkeit der Bevölkerung beeindrucken mich zutiefst, und das wurde offenbar auch von den Russen unterschätzt.
Werden die ukrainischen Flüchtlinge schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, damit gut ausgebildete Menschen nicht Erntehelfer werden müssen?
Die Situation bei den Ukrainern ist ganz anders als bei einem normalen Asylfall. Die EU hat beschlossen, dass es einen temporären Schutz geben wird. Das ist eine Richtlinie, die noch nie angewendet wurde. Das heißt, die Flüchtlinge werden vollen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Damit kann dann sehr rasch die Integration stattfinden. Auch die Integration der Kinder in den Schulen wird vorbereitet. Die Hilfsbereitschaft in Österreich ist enorm! Aber Österreich wird eher ein Transitland, die großen Communities sind in Italien und Spanien, viele reisen dorthin.
Der 65 Kilometer lange Militär-Konvoi in Richtung Kiew könnte von der Luft aus attackiert werden. Wann kommen die versprochenen Waffen aus der EU in die Ukraine?
Die Lieferungen sind angelaufen – aber die Bewegungsrouten werden von Sperrfeuern unterbrochen. Außerdem müssen die Lieferungen an der Grenze umgeladen werden, damit es keine Berührungspunkte mit NATO-Streitkräften gibt. All das braucht Zeit. Dazu kommen große Flüchtlingsströme innerhalb der Ukraine, das erschwert die Logistik zusätzlich. Der Konvoi zeigt, dass die Russen sich nicht von einer Luftüberlegenheit der Ukrainer bedroht fühlen. Auch nicht von Drohnen. Das kann sich aber jederzeit ändern, sobald die Lieferungen ankommen.
Kommen wir zur Regierung und der Pandemie. Der neue Gesundheitsminister Johannes Rauch galt immer als der grüne Politiker, der für die Grünen artikuliert hat, was die Regierungsmitglieder aus Koalitionsräson nicht sagen konnten. Wie ungemütlich wird mit ihm die Stimmung nun?
Gar nicht ungemütlich. Ich habe Johannes Rauch am Freitagabend getroffen. Ich kenne ihn als einen sehr pragmatischen und klugen Kopf. Ich gehe von einer guten Zusammenarbeit aus. Es ist mir durchaus recht, dass Menschen gleich klar sagen, was ihre Druckpunkte sind. So habe ich meinen Vertrauensstatus bei den Grünen erworben, weil ich klar kommuniziere, wenn sich bei mir etwas nicht ausgeht, aber ich gleichzeitig versuche, ihren Standpunkt zu verstehen.
Sie sprechen von Grundvertrauen in der Regierung. Steiermarks Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer meinte, die Regierung hält, aber nicht, weil sie gut funktioniert, sondern weil sie angstzerfressen vor Wahlen ist. Das klingt weniger vertrauensbildend ...
Ich kann niemandem seine Meinung vorschreiben. Aber ich habe die Innensicht. Zur Verfasstheit der Regierung muss auch einmal festhalten: Es gibt keine Bundesregierung der Zweiten Republik, die so vielen Krisen zu bewältigen hatte. Von der Pandemie bis zum Terroranschlag und jetzt dem Krieg in Europa. Diese Koalition war extrem gefordert, und trotzdem gab es zu jedem Zeitpunkt eine stabile Mehrheit im Parlament. Zusätzlich haben wir noch eine öko-soziale Steuerreform mit einer Entlastung von 18 Milliarden Euro umgesetzt. Das ist für mich der Maßstab, dass diese Regierung funktioniert.
Fast 40.000 Corona-Infektionen pro Tag und trotzdem gibt es nun weitreichende Lockerungen. Die Stadt Wien geht deswegen einen strengeren Weg. Ist das wirklich ein verantwortliches Handeln?
Dieser Öffnungsschritt ist nach wie vor gerechtfertigt. Warum? Es gibt eine Plateaubildung bei den Infektionen. Bei Omikron sprach man ja immer von einer steilen Wand, die dann auch wieder steil abfällt. Das sehen wir nicht, weil eine Subvariante den steilen Abfall der ersten Omikronvariante bremst. Gleichzeitig sieht man aber auch, dass die Situation auf der Normalstation zwar angespannt, aber stabil ist. Die Intensivstationen sind nicht überlastet. Deswegen ändern wir unsere Beschlusslage nicht.
Sie waren als Auskunftsperson im U-Ausschuss. Er heißt ÖVP-Korruptionsausschuss, nun ist die Ex-ÖVP-Ministerin Sophie Karmasin in U-Haft. Das ist für eine Partei imagemäßig die Höchststrafe ...
Der Titel des U-Ausschusses ist ja entlarvend. Denn er ist eine politische Wertung ohne Beweis.
Sind nicht die U-Haft, die Chats und die Ermittlungen genug Beweis für diesen U-Ausschuss?
Wir müssen schon bei den von der Verfassung gegebenen Grundsätzen bleiben, dass jemand nur dann schuldig ist, wenn ein Gericht ein Urteil fällt. Wenn ich heute die Zeitungen aufschlage, lese ich, dass es ja auch Kontakte zwischen Karmasin, SPÖ und Tal Silberstein gab. Auch da würde ich keine Pauschalierungen gegenüber der SPÖ treffen. Ich halte es für wichtig, dass Einzelfälle benannt, untersucht und Schuldige identifiziert werden und das Gericht ein Urteil fällt. Aber Pauschalierungen lehne ich ab.
Sollte sich Wolfgang Sobotka nicht als Vorsitzender im U-Ausschuss zurückziehen, um die Würde des Parlaments zu wahren?
Das Parlament ist das Parlament und die Regierung ist die Regierung. Das Parlament hat sich für den U-Ausschuss eine Geschäftsordnung gegeben, und diese respektiere ich. Ich finde, wir müssen mit der Kultur aufhören, dass der Bundeskanzler dem Präsidenten des Parlaments etwas zuruft und umgekehrt. Das halte ich für entbehrlich. Gleiches gilt übrigens für Ermittlungen der Justiz.
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