Justizministerin nach Fall Anna: "Das Strafrecht kann nicht alles regeln"

Anna Sporrer
Die Justizministerin verteidigt die Richterschaft gegen Kritik und Hass rund um den "Fall Anna“ und appelliert auch an die Anwaltschaft. Bei einer Reform will sie Pflichten der Eltern in den Fokus stellen.

Der Postenschacher-Prozess gegen ÖVP-Klubchef August Wöginger endete abrupt mit einer Diversion. Zehn Burschen, die Sex mit einer Zwölfjährigen hatten, wurden freigesprochen. Zwei Entscheidungen, die zuletzt für heftige Reaktionen gesorgt haben. Justizministerin Anna Sporrer (SPÖ) verteidigt die Richterschaft, hat sich aber einige Punkte vorgenommen.

KURIER: Waren Sie auch überrascht, dass Wögingers Prozess so rasch geendet hat? Geplant waren ja elf Verhandlungstage.

Anna Sporrer: Ich hänge nicht am Liveticker, die Gerichte sollen in Ruhe arbeiten.

Gericht und WKStA werden kritisiert, weil sie Wöginger „zu billig“ hätten davonkommen lassen und Korruption bagatellisieren würden.

Eine Diversion ist kein Freispruch und keine Bagatellisierung, sondern ein Instrument, um bestimmte Verfahren zu beenden – etwa, wenn der Sachverhalt hinreichend geklärt ist und die Verantwortung für die Tat übernommen wurde. Das Gericht hat befunden, das liegt vor. Das kommentiere ich nicht weiter.

Sie könnten aber etwas dagegen tun: eine Weisung von Ihnen – und die WKStA muss Beschwerde einlegen.

Ich halte mich aus Strafverfahren heraus. Es läuft ab wie immer: Die WKStA wird einen Bericht vorlegen, den zuerst die Oberstaatsanwaltschaft und dann die Fachaufsicht in meinem Haus prüft. In meinen sieben Monaten im Amt bin ich immer deren Einschätzung gefolgt.

Die Fachaufsicht hat völlig freie Hand, Sie unterschreiben nur?

Ich verlasse mich auf die Beamten, die das seit vielen Jahren sehr kompetent machen.

Sie kennen Wöginger persönlich: Glauben Sie ihm, dass es ihm leidtut und er ein Unrechtsbewusstsein entwickelt hat?

Das kommentiere ich nicht.

Wie handhaben Sie selbst Postenbesetzungen? Nehmen Sie immer den erstgereihten Kandidaten oder reihen Sie um?

Da verlasse ich mich auf die Experten und folge deren Rat.

Die Wöginger-Diversion ist schon die zweite Gerichtsentscheidung, die für die breite Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar ist. Hat die Justiz da ein Problem? 

Nein. Falls Sie den sogenannten „Fall Anna“ ansprechen: Es ist ein Freispruch erfolgt, und zwar durch ein unabhängiges Gericht unter Beteiligung von Laien. Diese Personen anzugreifen und sogar ihre Familien zu bedrohen – das ist fatal und strikt zu unterlassen. Ich stehe voll und ganz hinter den Gerichten, die wirklich unter schwierigsten Bedingungen arbeiten. Wir haben dem Richter Unterstützung angeboten und sind zum Beispiel online gegen Hasskommentare vorgegangen.

Der vorsitzende Richter hat die Medien kritisiert, ihnen quasi die Schuld gegeben für die aufgeheizte Stimmung.

Es ist natürlich problematisch, wenn die Öffentlichkeit mit falschen Fakten in die Irre geführt wird.

Ein wiederkehrendes Problem ist ja: Anwälte dürfen gegenüber Medien fast alles sagen, Staatsanwälte und Gerichte fast nichts.

Ja, sie sind an gesetzliche Verschwiegenheitspflichten gebunden, müssen die Interessen der Opfer und Beschuldigten schützen, während ein beteiligter Anwalt die Möglichkeit hat, im Zuge seiner Litigation PR gezielt Informationen herauszugeben.

Wird man damit leben müssen?

Man kann nur an die Rechtsanwaltschaft appellieren, mit diesen Informationen sorgsam umzugehen. Es gibt hohe ethische Standards im Standesrecht und auch Möglichkeiten, auf die Kollegen einzuwirken.

Der Fall Anna ist noch nicht vorbei, Sie haben eine Weisung erteilt, die Staatsanwaltschaft Wien musste gegen die Freisprüche Rechtsmittel anmelden. Haben Sie das wegen des öffentlichen Drucks getan?

Das trifft nicht zu. Die Weisung ist in meinem Namen ergangen, ich bin dem Rat der Fachaufsicht gefolgt. Das Rechtsmittel wurde angemeldet, und sobald das Urteil schriftlich ausgefolgt ist, wird bewertet, ob Nichtigkeitsbeschwerde erhoben wird.

Es kann also sein, dass gar keine Beschwerde kommt?

Theoretisch ja.

Künftig soll ja eine Bundesstaatsanwaltschaft über solche Weisungen entscheiden. Wie ist der Stand?

Es gab im Sommer einige kritische Stimmen, auch von hohen Vertretern der Justiz, die ich vor Kurzem zu einer großen Runde eingeladen habe, plus Standesvertreter und Justizsprecher der Parlamentsklubs. Wir haben uns die Positionen angehört und – wichtig – die Seiten haben auch einander angehört. Wir sind gerade dabei, die neuen Erkenntnisse einzuarbeiten.

Was sind die offenen Punkte?

Erstens die Qualifikation. Für mich ist ein unverzichtbarer Punkt, dass nur Staatsanwälte und Richter infrage kommen, die das Handwerk von der Pike auf gelernt haben. Schließlich sollen sie dann die fachliche Aufsicht über Anklagebehörden ausüben. Zweitens die Bestelldauer. Im Ministerrat haben wir uns auf sechs Jahre geeinigt, aber es gibt Stimmen, die meinen, das sei zu kurz. Eine längere Dauer wird international als Indiz für eine höhere Unabhängigkeit gesehen.

Die SPÖ wollte immer zwölf Jahre. Einigt man sich jetzt auf neun?

Das könnte ein Kompromiss sein.

Wann sind Sie fertig?

Heuer werden wir noch nicht im Bundesgesetzblatt stehen.

Angekündigt wurde im Zuge des Falles Anna, dass Sie heuer noch das Konsensprinzip – „Nur Ja heißt ja“ – fixieren wollen.

Was für uns Frauen völlig selbstverständlich ist, sollte endlich rechtlicher Grundsatz werden: Nämlich, dass sexueller Kontakt ausschließlich und explizit einvernehmlich stattfinden soll. Ich will drei Wörter im Gesetz ändern: Statt „gegen den Willen“ soll da stehen „nur mit Zustimmung“. Das ist keine Anlassgesetzgebung, darüber diskutiere ich seit Amtsantritt.

Wo wollen Sie sonst noch ansetzen – als Lehre aus dem Fall Anna?

Das Strafrecht kann nicht alles regeln. Wir sehen in diesem Fall: Das ist eine Gruppe jugendlicher Burschen, wo vorher schon ganz viel falsch gelaufen ist, die auf die schiefe Bahn geraten sind. Viele sind durch die im Internet leicht zugänglichen pornografischen Inhalte völlig fehlgeleitet in ihren Vorstellungen, wie Sex abläuft. Es braucht uns alle – Schulen, Jugendbehörden, aber auch Eltern –, um das zu ändern.

Eine Psychologin hat kürzlich gesagt: Wenn ein Bursch zu Hause liebevoll und empathisch erzogen wurde, werden ihn Gewaltpornos nicht weiter beeindrucken können. 

Natürlich. Das sind oft vernachlässigte Kinder, mit unbeschränktem Zugang zu sozialen Medien – auch die müssen wir stärker in die Pflicht nehmen, aber das geht nur unionsweit. Wir werden beim Kindschaftsrecht ansetzen, wo wir die elterliche Pflicht in den Fokus stellen. Ich greife auf, was meine Vorgängerin begonnen hat, und möchte es bald in die politische Koordination bringen.

Das bedeutet konkret?

Obsorge ist ein Bündel an Verpflichtungen: Pflege, Erziehung und gesetzliche Vertretung. Wir schauen uns gezielt die Verantwortung an – nicht nur bei Trennungssituationen.

Wenn beispielsweise ein Kind die Schule schwänzt, weil es sich zum Sex verabredet, dann passiert was?

Natürlich müssen Eltern Verantwortung übernehmen. Und die Jugendhilfe muss unterstützen. In letzter Konsequenz muss das Gericht eingreifen, wenn das Kind vernachlässigt wurde.

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