Asylexperte Gahleitner-Gertz: "Ich hätte auch am liebsten keine Flüchtlinge"
Asyl und Migration werden Wahlkampfthema Nummer 1 sein – ein erster Vorbote ist die Debatte um die Mindestsicherung; aber auch der kürzlich vereitelte Terroranschlag auf ein Taylor-Swift-Konzert in Wien wird die Politik wohl noch länger beschäftigen.
Lukas Gahleitner-Gertz ist als Sprecher der NGO asylkoordination recht umtriebig auf X (vormals Twitter) und viel zitierter Kommentator in Medien, um die Sager, die von allen politischen Seiten daherkommen, anhand von Zahlen und Fakten einzuordnen. Sachlich und ohne Schaum vorm Mund, weshalb er dem Vernehmen nach auch in höchsten politischen Kreisen respektiert wird.
KURIER: Innenminister Gerhard Karner sagt, er stehe für eine „glaubwürdige, gerechte und strenge Asylpolitik“. Wie gut gelingt ihm das?
Lukas Gahleitner-Gertz (überlegt lange): Österreich hat europaweit eines der am besten funktionierenden Systeme, aber es ist ein beständiger Kampf, damit die Regeln eingehalten werden.
Damit wer die Regeln einhält?
Alle Beteiligten. Glaubwürdig ist ein Asylsystem dann, wenn eine menschenwürdige Unterbringung und ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet sind. Das klingt langweilig, aber darum gehts. Dass es der Innenminister am Parameter der Abschiebungen festmacht, reihe ich unter wahlkampfinduziertem Unsinn ein.
Warum?
Das Thema Asyl eignet sich, um Stimmung zu machen. Aber die Erzählungen und präsentierten Zahlen haben oft mit der Realität nicht viel zu tun.
Ein Beispiel?
Es wird viel von „Asylmissbrauch“ gesprochen, den es zu unterbinden gelte. Fakt ist: Wir haben derzeit eine Anerkennungsquote von 80 Prozent. Das heißt, dass die meisten Menschen einen Schutzbedarf haben und es wenige unberechtigte Anträge gibt. Beim Asylthema wird gerne Kontrolle simuliert: Herbert Kickl hat sich damit gerühmt, dass in seiner Zeit als Innenminister die Antragszahlen zurückgegangen sind. Diesen Rückgang gab es schon vorher und das hatte nichts mit seinen politischen Maßnahmen zu tun. Wir sind immer abhängig von internationalen Entwicklungen, Fluchtrouten können sich verlagern.
Unter Kickl, der immer einen harten Abschiebe-Kurs propagiert, gab es auch nicht mehr Abschiebungen als heute?
Man sieht bei den Zahlen keinen wesentlichen Unterschied. Es gibt in Österreich eine gute rechtsstaatliche Kontrolle. Aber wir haben gesehen: Man kann das System torpedieren, indem man Ressourcen weghält, Stellen nicht besetzt, Schikanen einbaut.
Es gibt breiten Konsens, dass jene, die kein Recht auf Schutz haben, gehen müssen. Ist das realistisch? Wir haben laut Statistik ja deutlich mehr Negativ-Bescheide als Außerlandesbringungen.
Es gibt kaum belastbare Zahlen, wie viele wirklich im Land bleiben – ohne soziale Leistungen und kaum Zugang zum Arbeitsmarkt. Aber wir sehen, dass die allermeisten Menschen weiterziehen oder selbstständig zurück in ihr Heimatland gehen.
Untertauchen in den Communitys ist keine Option?
Österreich ist kein beliebtes Land für illegalisierte Menschen, man fällt recht schnell auf. Die soziale Kontrolle und die Kontrolle von Schwarzarbeit sind stark. In Ländern wie Italien und Frankreich ist es viel leichter.
Noch so ein Slogan lautet: Straftäter müssen abgeschoben werden.
Es wurde ein Schwerpunkt auf die Abschiebung von Straffälligen gesetzt. Aber man sieht in der Statistik: 70 Prozent der zwangsweise Abgeschobenen, die straffällig waren, sind EU-Bürger. Daran die Glaubwürdigkeit des Asylsystems festzumachen ist absurd, weil das keine Asylantragsteller waren.
Ist es machbar, einen Afghanen, der in Österreich gemordet und vergewaltigt hat, aus dem Land zu bringen?
Man kann ihm den Schutztitel aberkennen, aber die Abschiebung hängt immer vom Herkunftsland ab. Wenn er dort einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre, dann darf man die Abschiebung nicht vollziehen.
Also nein.
Bei diesen Ländern ist es nicht möglich.
NGOs wird oft vorgeworfen, sie würden am liebsten alle Flüchtlinge hereinlassen. Wo stehen Sie da?
Ich hätte auch am liebsten keine Flüchtlinge. Aber wir leben nicht im La-La-Träumeland, sondern in einer Welt, wo es nun einmal Kriege und Verfolgung gibt. Damit müssen wir einen Umgang finden.
Aber müssen die nach Österreich fliehen? Was ist mit den Nachbarländern?
Die allermeisten syrischen Flüchtlinge sind im Libanon und in der Türkei – Länder, in denen sie sich nicht auf ihre Rechte laut Genfer Flüchtlingskonvention berufen können. Ich kreide es der Politik schwer an, dass sie dieses Vertragswerk jetzt unter Beschuss nimmt. Grund für die wahrgenommene Überforderung ist, dass wir keine solidarische Aufteilung und keine regulären Fluchtwege haben. Nachhaltige Lösungen werden aus populistischen Gründen torpediert, um Problemfelder zu bewirtschaften.
Lukas Gahleitner-Gertz, 1982 in Oberösterreich geboren , ist Jurist und seit 2019 Sprecher der NGO „asylkoordination österreich“. Davor war er Rechtsberater und -vertreter im Asylbereich, in der Kanzlei von Medienanwältin Maria Windhager und bei Amnesty International Österreich tätig. Gahleitner-Gertz verfasst den jährlichen AIDA-Bericht (Asylum Information Database) für den European Council on Refugees and Exiles (ECRE), hinzu kommen zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu Asyl und Grundversorgung. Auf X (vormals Twitter) hat er die Inforeihe #asylfakt.
„asylkoordination österreich“ ist eine Plattform für Vernetzung, Information und Bildung rund um das Thema Asyl, die auch mit den Behörden in Kontakt steht.
Sagen Sie, wir haben kein Problem mit Migration?
Wir haben ein Problem mit dem Umgang damit. Ich kenne keinen einzigen Vorschlag von der FPÖ. Da heißt es nur: „Bäh, wollen wir nicht.“ Das ist eine Emotion, aber die bringt uns nicht weiter.
Welcher Partei trauen sie am ehesten eine Lösung zu?
Am zielführendsten halte ich den Vorschlag der SPÖ, entschlossen gegen Länder in der EU vorzugehen, die ein solidarisches System torpedieren. Das sind Ungarn und Griechenland. Eine Auslagerung von Asylverfahren nach Ruanda ist absurd und unrealistisch. Zuerst müssen wir es mal schaffen, dass sich EU-Staaten an gemeinsame Mindeststandards halten.
Wo stehen Sie in der Mindestsicherungsdebatte?
Eine Debatte ist überfällig, aber der Anlass ist ungeeignet. Bei den Menschen bleibt hängen, dass eine Familie 4.600 Euro bekommt. Wir müssen einmal das Problem definieren. Dass es mehr Anreize braucht, um arbeiten zu gehen – darüber können wir diskutieren. Aber da müssen wir auch an Stellschrauben in der Integration drehen.
Was meinen Sie konkret?
Aussichtslose Asylverfahren werden im Fast-Lane-Verfahren abgehandelt, aber jene Asylwerber, die Chancen haben, warten zwei, drei Jahre und dürfen nichts tun. Das System ist nicht darauf ausgerichtet, Menschen darauf vorzubereiten, auf eigenen Beinen zu stehen. Und dann ärgert man sich, wenn sie direkt in die Mindestsicherung gehen. Die Integrationspolitik ist gescheitert.
Was halten Sie vom amtierenden Innenminister?
Bei allen Differenzen, Gerhard Karner wird in der Öffentlichkeit unter seinem Wert geschlagen – wenn man sich anschaut, was in seiner Zeit geschafft wurde. Trotz der vielen Asylanträge 2022 funktioniert das Land sehr gut. Ich rechne ihm hoch an, dass er nach der Invasion Russlands in der Ukraine sofort gesagt hat, wir helfen rasch und unbürokratisch. Generell sehe ich bei ihm, dass er lösungsorientiert und pragmatisch arbeitet. Das steht im Widerspruch zu den Zahlentricksereien in der Öffentlichkeit.
Stellt ein Fremder einen Asylantrag in Österreich, dann übernimmt zunächst der Bund seine Versorgung, bevor er in die Grundversorgung der Länder kommt. In Quartieren bekommen Erwachsene ein Verpflegungsgeld von ca. 210 Euro, ein Kind 145 Euro. Für Kleidung und Schulbedarf werden meist Gutscheine vergeben. Bei privater Unterbringung gibt es einen Mietzuschuss von 165 Euro für Einzelpersonen und 330 für Familien.
In der Grundversorgung befinden sich mit Stand 1. Juli in Summe 73.182 Personen – davon sind mehr als die Hälfte Vertriebene aus der Ukraine, die auch über dieses Modell versorgt werden.
Mindestsicherung
Nach positivem Abschluss des Asylverfahrens erhalten Fremde Zugang zum Arbeitsmarkt. Viele sind aber noch zu wenig oder gar nicht qualifiziert. Als erstes Sicherheitsnetz dient dann die Mindestsicherung. Einzelpersonen erhalten 1.156 Euro, Paare 1.680. Wien zahlt für jedes Kind 312 Euro Zuschlag, andere Länder haben degressive Modelle.
Österreichweit gab es 2022 im Schnitt 190.000 Bezieher, ein Großteil davon sind Aufstocker, weil Einkommen, Pension, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe nicht ausreichen. Laut Integrationsbericht ist die Zahl der Bezieher seit 2017 österreichweit gesunken, in Wien einzeln betrachtet etwas gestiegen. Im selben Zeitraum wurden aber auch 100.000 Schutztitel an Asylwerber vergeben.
Perfekt vergleichbar sind die Zahlen der Länder nicht: In Wien und Tirol bekommen auch subsidiär Schutzberechtigte die Mindestsicherung, in anderen Ländern sind diese weiter in der Grundversorgung.
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