Harald Mahrer: "In der Hoffnung, dass niemand auszuckt“
"Politiker nehmen kein Risiko mehr“, sagt der WKO-Präsident. Er fordert bis zu 70.000 Rot-Weiß-Rot-Karten, schnellere Genehmigungsverfahren und weniger „Klein-Klein“.
Trotz des fehlenden KV-Abschlusses im Handel sind die Beziehungen auf Tarifpartnerebene für Mahrer „exzellent“. Der Streit zwischen Finanzminister und Klimaministerin wegen neuer Gasleitungen wirkt auf ihn, „als wolle man alternative Gasrouten mutwillig verhindern“.
Harald Mahrer: Die Beziehungen auf Tarifpartnerebene sind exzellent, wie eine Reihe von KV-Abschlüssen, die unter extrem schwierigen Bedingungen gelungen sind, zeigt. Die Situation ist heuer besonders, weil die wirtschaftliche Situation besonders ist.
Wird es heuer noch einen Abschluss geben?
Das liegt in den Händen der Verhandler. Die Idee der Arbeitgeber, im Handel eine freiwillige Erhöhung der KV-Mindestgehälter zu empfehlen, um Sicherheit zu geben, erachte ich als vertrauensbildendes Signal.
Apropos Arbeitsmarkt: Bis 2027 sollen jährlich 15.000 Rot-Weiß-Rot-Karten ausgestellt werden, um Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. Die Zahl ist doch lächerlich, oder?
Die Arbeitsmarktsituation ist ein schönes Beispiel für das typisch österreichische Klein-Klein, das Kirchturmdenken – statt mutig und entschlossen offen über unangenehme Wahrheiten zu sprechen.
Was ist eine unangenehme Wahrheit?
Wenn ich weiß, dass ich 200.000 offene Stellen habe und wegen der älter werdenden Gesellschaft in den nächsten 15 Jahren zusätzlich 300.000 Arbeitskräfte brauchen werde, kann ich das nicht ausblenden. Das passiert aber und ist so unverantwortlich wie über Arbeitszeitverkürzung zu sprechen.
Arbeitszeitverkürzung ist aber Thema!
Nur im Märchen. Wir müssen mehr und länger arbeiten. Aber wir können uns natürlich auch trefflich unterhalten, wer an Pisa-Ergebnissen oder fehlenden Pflegekräften Schuld trägt, nur hilft uns das nicht. Wir brauchen Lösungen und keine Wahlkampf-Starre in den kommenden zwölf Monaten.
Ja. Es herrscht die Angst, dass die Wähler diejenigen abstrafen könnten, die sagen: „Wir benötigen Menschen aus dem Ausland für den Arbeitsmarkt.“ Es gibt eine tief sitzende Furcht vor Überfremdung in diesem Land, weil Integration in den vergangenen 20, 25 Jahren nicht gut genug gemanagt worden ist. Diese Kritik müssen sich alle gefallen lassen! Jetzt nimmt man ein Instrument wie die RWR-Karte und versieht sie mit der Zahl 15.000, in der Hoffnung, dass niemand auszuckt. In Wahrheit müsste man sich hinstellen und sagen: Damit unser Land weiter so funktioniert, wie wir es gewohnt sind, brauchen wir 50.000 bis 70.000 Karten.
Dann will die Koalition also, dass niemand auszuckt?
Wenn wir genug Menschen mit genug Rückgrat in allen Parteien hätten, die sich eine solche Debatte zutrauen, ohne knieschlotternd an den nächsten Wahltag zu denken und halbe Lösungen zu präsentieren, ginge es dem Land besser.
Die Freiheitlichen, denen derzeit die meisten Stimmen attestiert werden, werben seit Monaten mit der Festung Österreich.
Sie wollen mehr Menschen, die kommen, um nicht zu bleiben?
Wir müssen flexibel werden. Manche Menschen wollen in Österreich arbeiten, aber nicht mit ihren Familien gemeinsam hier leben. Die Deutschen haben aus diesem Grund über Nacht ihr Westbalkankontingent verdreifacht, um diese Arbeitskräfte ins Land zu holen. Auch wir sollten diese Menschen einladen, Teil des heimischen Arbeitsmarkts zu werden. Gleichzeitig müssen wir uns um jene bemühen, die mit ihren Familien nach Österreich kommen wollen, um hier zu arbeiten und zu leben und nicht um die Hand aufzuhalten.
Die ÖVP war ständig in Regierungsverantwortung, insbesondere für Integration zuständig – warum sollten Integration und Zuzug partout jetzt funktionieren?
Ich nehme niemanden aus, auch die Volkspartei nicht: Man bindet die Menschen, um Lösungen zu erarbeiten, viel zu wenig ein. Egal ob Forschung und Wissenschaft, Kunst und Kultur, Sport oder Zivilgesellschaft: Überall sind wir mit ähnlichen Problemen konfrontiert, doch es wird nicht miteinander gesprochen. Das heimische Parteiensystem schottet sich gerade ab, und das ist schlecht. Wir brauchen Offenheit und Dialog statt Verzwergung und Hetze. Österreich war immer gut darin, die großen Zukunftsfragen gemeinsam zu beantworten.
Wann zuletzt?
Immer! Erinnern wir uns an die 1970er-Jahre, die Zeit der Schilling-D-Mark-Bindung, die Öl-Krise, später EU-Beitritt, Euro-Einführung oder EU-Osterweiterung.
Vielleicht gibt die Politik keine Antworten, weil die handelnden Personen es nicht können?
Zu attestieren, dass das gesamte politische Personal unfähig ist, das stimmt einfach nicht. Ich nehme wahr, dass viele angstgetrieben sind. Wir müssen das Korsett der Angst ablegen. Ich bin es leid, in einem Land zu leben, das sich kleiner macht, als es ist und sich in der politischen Debatte ständig selbst erniedrigt. Österreich kann mehr.
Österreich macht sich klein – wo genau?
Es wird kleingeredet. Wir machen den nachhaltigsten Tourismus im Europavergleich, von alternativen Energien bis zur Verwendung von Essen im Sinne der Kreislaufwirtschaft. Aber die Nestbeschmutzer skandalisieren, dass Skiregionen beschneit werden. Es gibt in vielen Politikfeldern Best-Practice-Beispiele, die auch zur Lösung von großen Problemen herangezogen werden können, doch dafür brauchen wir politische Verantwortungsträger, die Mut haben.
Der WAG-Loop, den Sie ansprechen, und für den es eine Drittellösung geben soll – ein Drittel zahlt die Republik, ein Drittel die projektwerbenden Unternehmen, der Rest kommt über neue Gebühren – kostet 200 Millionen Euro. Wir wollen dringend aus der Abhängigkeit von russischem Gas und bringen es nicht fertig, die Genehmigung für die Verfahren zu beschleunigen? Und die Politik bringt nicht die Verantwortung und den Mut auf, die Mittel aus einem Ressort bereitzustellen? Ja – das wirkt fast so, als wolle man mutwillig verhindern, dass wir alternative Gasrouten für die Zukunft bekommen.
Wir erleben gerade, dass Privatpersonen wie Unternehmer, die an die Energiewende glauben und in PV-Anlagen investieren, ihren produzierten Energieüberschuss nicht ins Leitungsnetz einspeisen können, weil es die Leitungen nicht gibt. Das ist typisch Österreich. Wenn wir aus Landschafts- oder Umweltschutzgründen Verfahren nicht schneller genehmigen, wird es zu einem Stromversorgungsproblem in Österreich kommen. Das ist die unangenehme Wahrheit, die benannt werden muss.
Die Wahrheit ist also: Wir werden es nicht schaffen?
Wenn alles bleibt, wie es jetzt ist, wird die Energiewende nie gelingen, der Strompreis steigen und die Abhängigkeit von Gas bleiben. Wir wollen keine Atomkraft in Österreich, also brauchen wir ein neues Leitungsnetz für die Energiewende. Wir schaffen es nur mit Prioritätensetzungen und nicht mit Blockadehaltungen. Der Republik fehlt es an Mut und Grandezza – auch Mittel bereitzustellen. Denn: Wir werden nichts ernten können, wenn wir jetzt nicht säen.
Sie sprechen ständig von Mut. Ist es sich nicht die Verantwortung, die Politikern fehlt?
Politiker werden dafür gewählt, Verantwortung zu übernehmen. Mut zu haben und Risiko einzugehen – das würde normalerweise im Beipackzettel der Politiker-Jobdeskription stehen. Aber Politiker nehmen kein Risiko mehr, weil Bürger westlicher Demokratien im digitalen Zeitalter Politiker für alles verantwortlich machen. Wissend, dass es auch externe Einflüsse gibt, für die Politiker keine Verantwortung tragen können. Das ist der Grund, warum immer weniger Menschen in die Politik gehen. Demokratie ist von Menschen für Menschen gemacht – unmenschlicher Umgang zersetzt das, was Demokratie ausmacht. Und Österreich ist in einer Phase, in der wir einen neuen Kompass brauchen, weil wir vor wichtigen Richtungsentscheidungen stehen.
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