Ex-ÖVP-Minister Blümel: "Politik ist ein extrem mühsamer Prozess"

Im Dezember 2021 tritt er von allen politischen Ämtern zurück (ÖVP-Wien-Chef, Finanzminister): Seit 2023 ist der heute 43-Jährige für Frank Gotthardts CompuGroup Medical tätig. Im "Mare TechnoPark" in Venedig sollen bis zu 900 Mitarbeiter eine KI im Medizinbereich aufbauen. Der Ex-Finanzminister über moralische Bedenken der Zukunft, grüne Bedenken der Vergangenheit und was ethisch korrekt ist.
KURIER: Wie oft verwenden Sie Künstliche Intelligenz?
Gernot Blümel: Unzählbar oft am Tag. Bei jedem zweiten e-Mail.
Weil?
Weil es viel erleichtert. Ich diktiere den Text, lasse CoPilot laufen, sage: Übersetze bitte ins Italienische, mache es höflicher oder direkter. Es ist eine enorme Zeitersparnis – nicht nur beim Schreiben. Wir haben gerade eine Ausschreibung und lassen die KI Angebote vergleichen.
Wie weit ist der "Mare TechnoPark“, dessen Geschäftsführer Sie sind, in Venedig gediehen?
Das Projekt läuft auf zwei Schienen: Für den Forschungspark und die Partnersuche bin ich verantwortlich, im Partnerkonzern, der CompuGroup Medical, wird die KI im Medizinbereich aufgebaut. Diese Woche wird der städtebauliche Vertrag mit Venedig finalisiert, um die notwendige Rechtssicherheit zu haben, im Herbst mit den Bauarbeiten beginnen zu können. Wir planen Arbeitsplätze für bis zu 900 Personen und Wohnräumlichkeiten für bis zu 600.

Was soll Mare am Ende können?
Mare wird das Silicon Valley für Medizin in Europa.
Das ist ein gewagter Anspruch.
Das ist aber die Grundkonzeption! Wir hätten den Park überall sonst in Europa bauen können, am Hauptsitz der CompuGroup in Koblenz beispielsweise. Wir wollen aber die weltweit besten Talente in dem Bereich und dafür muss man ein besonderes Umfeld bieten. Sandstrand und Adria auf der einen Seite, Campanile und Dogenpalast auf der anderen.
Bediene ich ein Klischee, wenn ich annehme, dass die Gesuchten vorrangig unter 40, männlich und Datenspezialisten sind?
Wir wollen klassische Entwickler ansprechen, die stark im KI-Bereich sind. Das sind nicht nur, aber vor allem jüngere Menschen. Gleichzeitig gibt es Professoren, die sehr stark und älteren Semesters sind, wenn ich an Experten wie Sepp Hochreiter denke.
Wenn man mittels App bereits jetzt Muttermale selbst kontrollieren kann, was können wir von der KI in zwei Jahren erwarten?
Muttermale sind ein gutes Beispiel dafür, was KI kann, noch nicht kann und wo wir den Graben überbrücken wollen. Muttermale funktionieren gut, weil es sich um eine KI-Anwendung mittels bildgebendem Verfahren handelt. Der Vorteil: Die Bilder sind leicht zu anonymisieren und kategorisieren. Zudem lassen sich Bilder synthetisieren, um die Quantität an Daten herzustellen, die benötigt wird, um eine KI zu trainieren.
Wo funktioniert die KI in der Medizin nicht?
Die KI funktioniert überall dort nicht, wo es um primärmedizinische Datensätze geht. Hätten wir Patientenakten in ausreichender Menge, um eine KI zu trainieren, dann kämen wir in ein völlig neues Universum. Genau das ist die Vision, die wir in Mare umsetzen wollen.

Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne), Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) und Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP)
Die Datenschutzgrundverordnung wird das „neue Universum“ be-, wenn nicht verhindern?
Der Datenschutz ist eine große Herausforderung, hat aber seine Berechtigung wie alle Regulierungen. Diese entstehen ja nicht, weil jemand böse sein will, sondern weil eine gute Absicht dahintersteckt. Aber ja: Der Datenschutz hemmt Innovation. Die CompuGroup ist ein Milliardenkonzern mit fast 10.000 Mitarbeitern, über deren Systeme weltweit etwa 200 Millionen Patientendaten laufen. Sie haben das Know-how und die rechtlichen Voraussetzungen, um Schritt für Schritt diese Daten auch nutzbar zu machen. Für Start-ups gibt es das nicht. Die EU hat das Problem erkannt und die Regulierung für den European Health Data Space (EHDS) bereits auf den Weg gebracht.
Was soll EHDS ermöglichen?
Es geht nicht um eine europäische Cloud, sondern um das Austauschbarmachen von medizinischen Daten. Aber wann das für wen nutzbar sein wird, das steht noch in den Sternen.
Menschen sind bereit, ihr ganzes Leben auf Social Media zu teilen oder mit Kundenkarten ihr Konsumverhalten für Konzerne zu offenbaren. Glauben Sie, dass sich beim Datenschutz etwas in der Gesellschaft ändern wird, wenn es um die Gesundheit geht?
Das gute Bestreben, den Menschen Souveränität über ihre Daten zu geben, hat dazu geführt, dass die Großen wie Google und Facebook es mit einem Klick geschafft haben, die Rechtsfragen zu lösen. Jedes neue Unternehmen muss riesige, rechtliche Hürden bewältigen.
Was ist Ihre größte Hürde?
Um in Europa Daten nutzen zu können, muss eine Anonymisierung sichergestellt werden, die keinerlei theoretisch mögliche Rückverfolgung erlaubt. In den USA gilt als anonymisiert, wenn, salopp formuliert, Name, Geburtsdatum und Adresse fehlen. Wäre in Europa eine solche Pseudonymisierung möglich, könnten Daten viel leichter gesammelt und für die Forschung nutzbar gemacht werden.
Welchen Nutzen hätte der Patient davon?
Unsere Forscher nennen als Beispiel immer seltene Krankheiten. Es gibt Krankheitsbilder, die ein Arzt nur zehn oder 15 Mal in seinem Leben sieht oder erkennt. Bis ein Patient mit einer seltenen Krankheit richtig diagnostiziert ist, ist der Leidensweg oft sehr lange, sind die Gesundheitskosten sehr hoch. Je mehr Datensätze, desto schneller kann die KI abgleichen und eine Diagnose erstellen.
Dann geht er davon aus, dass die sogenannte Singularität bereits 2027 erreichbar ist. Ich habe mich intensiv mit der Geschichte der KI befasst, in der diese Annahme in regelmäßigen Abständen auftaucht 2020, 2030, 2040. Es gibt aber auch Menschen, die sagen, es kann nie passieren.

Warum?
Weil zu echtem Verstehen – einer menschlichen, kognitiven Fähigkeit – auch Bewusstsein gehört, um selbstreflexiv Dinge reflektieren zu können. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die davon ausgehen, dass auch Maschinen Bewusstsein erreichen können. Ich gehe davon aus, dass die kognitiven Kapazitäten der KI weiter steigen werden. Der große Game-Changer ist die Selbstlernfähigkeit .
Sie haben keine Angst, die KI könnte Ihre Arbeit verrichten?
Nein, aber die KI wird zu Arbeitsplatzkompensationen führen.
Das ist ein euphemistischer Ausdruck für durch KI überflüssig gewordene Arbeitsplätze.
Es ist bereits jetzt so, dass die KI Werbetexte, Logos oder Bildbearbeitung schneller und besser beherrscht als der Mensch. Ich kenne Unternehmen, die bis zu 40 Prozent ihrer Programmierstunden mit der KI bewerkstelligen. Vibe Coding ist der neue Chic.
Und der neue Chic funktioniert wie?
Man spricht mit der KI und diese übersetzt das Gesagte in einen Code. Es wird also in Echtzeit mit der natürlichen Sprache programmiert. Diese Möglichkeiten werden viel Produktivität bringen, aber vorerst weniger menschliche Arbeitskraft erfordern. Allerdings: Jede technische Weiterentwicklung in der Geschichte hat mittel- und langfristig dazu geführt, dass mehr Arbeitsplätze entstanden sind als vernichtet wurden.

Gilt das auch für den medizinischen Bereich?
Sicher! Wir haben gerade in Österreich eine Diskussion über zu wenige Ärzte, die zu wenig Zeit für die Patienten haben. Wir sollten alle froh sein, wenn sich die KI so weiterentwickelt, dass wir zum Beispiel den ersten Gesundheitskontakt über eine KI abwickeln können, die uns zum richtigen Arzt schickt, der dann dadurch mehr Zeit für uns hat.
KI ist fehlbar, halluziniert sogar, wie man sagt. Das führt in der Medizin zu Fehldiagnosen und Skepsis bei Menschen.
Die KI wird immer besser werden, doch es wird allein schon aus ethischen Gründen immer so sein, dass die Letztentscheidung der Mensch treffen wird.
Das Problem beginnt doch früher: Wer bestimmt, mit welcher hehren oder unredlichen Grundhaltung die KI programmiert wird?
In der Grundarchitektur der KI-Modelle wird viel darüber diskutiert, wie man das Alignment-Problem löst. Also, wie man eine Übereinstimmung findet zwischen der Arbeitsweise der KI und dem menschlichen Wertesystem. Das Grundproblem ist aber das menschliche Wertesystem, denn über das lässt sich sehr, sehr lange streiten. Was ist ethisch korrekt, was nicht? Was ist gut, was ist schlecht? Das sind Debatten, die wir im Alltag ständig führen. Von der KI zu erwarten, dass sie dieses Problem für uns löst, das ist ein wenig viel verlangt. Die KI ist in ihrer Arbeitsweise so vielfältig oder halluzinierend, wie die Menschen, die sie programmieren.
Bei selbstfahrenden Autos gibt es bereits die Debatten darüber, wer rechtlich belangt wird. Welche Rechtsproblematiken erwarten Sie?
Genau deshalb wird die Letztentscheidung immer der Mensch treffen. Gleichzeitig gebe ich zu bedenken, dass unterschiedliche Ärzte unterschiedliche Meinungen haben und es auch jetzt schon zu menschlichen Fehlern kommt.
Für all diese technischen Fortschritte wird Energie benötigt. Wird Europa gegenüber den USA allein schon deshalb nicht konkurrenzfähig sein, weil wir zu wenig billige Energie haben?
Was Europa daran hindert, schneller voranzukommen ist auch die Energie, aber nicht nur. Wir sind in der EU unglaublich schnell in der Regulierung und behindern dadurch Innovation. Wir nutzen hierzulande amerikanische Technologien, nicht weil wir dümmer sind, sondern weil wir es uns durch Bürokratie schwerer machen, sie selbst zu entwickeln. Die Aktien von Atomstromproduzenten haben zugelegt – bis zu jenem Moment als China sein R1-Modell (KI-Sprachmodell) auf den Markt gebracht hat. Warum? Weil China gezeigt hat, dass man billiger produzieren kann und es energieeffizientere Wege gibt.
Auch ohne Atomstrom?
Die Energiefrage wird nicht der Hemmschuhe. Was Atomkraft betrifft, so lügen wir uns doch nicht in den Sack: In Wirklichkeit fördern wir Atomstrom mit dem Euratom-Vertrag. Wir sind in der EU und finanzieren damit de facto auch den Ausbau von französischen AKWs, deren Strom wir dann genauso nutzen.
Zum Schluss: Haben Sie endgültig mit der Politik abgeschlossen?
Ich fühle mich sehr wohl, mit dem, was ich mache und habe noch immer ein hohes Sättigungsempfinden, was innenpolitische Debatten betrifft. Ich bin weiter ein politischer Mensch, der sich sehr für die gesellschaftspolitische Metaebenen interessiert. Spannend wird, wie KI unsere Gesellschaft transformieren wird. Tausende Jahre haben wir uns als Menschen damit beschäftigt, was uns als Menschen auszeichnet und kamen zum Schluss, die Vernunft ist das, was uns von allen anderen unterscheidet. Und plötzlich schaffen wir eine Entität, die wahrscheinlich vernünftiger wird als wir. Was macht genau das mit unserem Selbstbild, wenn Demokratie und Menschenrechte auf Vernunftbegabtheit basieren? Das sind Fragen, die uns massiv beschäftigen werden.
Europa beschäftigt derzeit das disruptive Verhalten von US-Präsident Donald Trump. Sehen Sie das als Chance oder Gefahr?
Trump ist ein disruptiver Faktor was gesellschaftliche Debatten, Usancen, Konventionen betrifft. Ein positiver Faktor für Europa kann sein, dass der Druck auf notwendige Veränderung jetzt stärker wird. Dass Europa sich selbst auch verteidigen können muss, das ist spätestens jetzt jedem klar. Das war aber auch schon vor Trump jedem klar, der es sehen wollte. Als wir mit den Grünen eine Koalition verhandelt haben, wollten manche noch, dass den Polizisten die Waffen abgenommen werden. Eine solche Debatte würde es heute – wohl auch dank Trump – nicht mehr geben.
Hätte KI beim heimischen Budgetdefizit geholfen?
KI wird vielerlei Hinsicht in der Politik zur Anwendung kommen, allein schon deshalb, weil es Datenverarbeitung leichter macht. Aber wir dürfen nicht den Fehler machen zu glauben, dass KI je Politik ersetzen wird. Politik ist in einer Demokratie per Definition ein extrem langsamer, mühsamer, diskursiver und ineffizienter Prozess. Das ist das Wesen von Demokratie. Wäre Politik auf Effizienz ausgerichtet, dann bräuchten wir keinen Begutachtungsprozess, keine erste, keine zweite Lesung.
Karriere: Der gebürtige Wiener (Jg. 1981) studiert an der Universität Wien und Université de Bourgogne (Frankreich) Philosophie, später an der Executive Academy der Wirtschaftsuniversität Wien. Von 2013 bis 2015 ist er ÖVP-Generalsekretär, von 2015 bis 2021 ÖVP-Landesparteiobmann in Wien. Dem ersten Kabinett von Sebastian Kurz gehört er als Kanzleramtsminister an, in der ersten türkis-grünen Regierung stellt er von 2020 bis 2021 den Finanzminister. Im Zuge der Casinos Affäre wird gegen ihn ermittelt, im November 2021 stellt die WKStA die Ermittlungen ein.
Privates: Gernot Blümel ist mit der Journalistin und Moderatorin Clivia Treidl verheiratet, gemeinsam haben sie zwei Kinder
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