Fluchtweg Mittelmeer zu – ein Vollholler?

Laut Schätzungen warten in Libyen mindestens 500.000 Flüchtlinge auf Überfahrt
Kanzler Kerns scharfe Kritik an Minister Kurz hat den Streit über eine mögliche Schließung der Mittelmeerroute neu entfacht – ein Faktencheck.

Sie gilt als der gefährlichste Seeweg von Afrika nach Europa – die Mittelmeerroute. Seit Jahresbeginn kamen bisher mehr als 1.800 Menschen ums Leben oder werden vermisst, sagt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Nun wird neuerlich diskutiert, ob dieser Flüchtlings-Korridor geschlossen werden kann und soll. Bundeskanzler Kern bezeichnete dies zuletzt als "Vollholler". Er wäre dafür, die Umsetzung sei aber unrealistisch. Wo liegen die Probleme, welche Pläne gibt aus Brüssel? Ein KURIER-Fakten-Check.

Die Situation ist eine völlig andere: Die Balkanländer sind relativ stabile und funktionierende Staaten. Zudem lässt sich mit Ländern wie Mazedonien oder der Türkei (trotz Differenzen) verhandeln. Durch den EU-Türkei-Flüchtlingspakt ist der Zustrom aus der Türkei nach Griechenland deutlich zurückgegangen. Um die Mittelmeerroute zu schließen, muss sich die EU mit ganz anderen Mächten auseinandersetzen, etwa mit Libyen oder Ägypten. In Libyen, von wo derzeit die meisten Boote starten, herrscht derzeit Chaos und Gewalt.

  • Kurz' Idee ist es, große Auffanglager zu errichten, damit Flüchtlinge erst gar nicht Mitteleuropa erreichen. Ist das realistisch?

In Tunesien und Ägypten lehnt man diese Asylzentren prinzipiell ab. Kanzler Christian Kern verwies diesbezüglich auch auf den ägyptischen Präsidenten, der gesagt habe "Ihr könnt uns soviel gar nicht zahlen", sowie auf Befürchtungen, wonach die Unterbringung von 500.000 Menschen "zur nächsten terroristischen Blut- und Keimzelle" werden oder die Länder der Region destabilisieren könnte. Libyen wird von islamistischen Milizen und zwei schwachen, konkurrierenden Regierungen beherrscht. Das Land ist derzeit nicht Willens und in der Lage, Auffanglager aufzubauen.

Zudem gilt es – genauso wie viele andere nordafrikanische Länder – nicht als sicherer "Drittstaat". Aus internationalen Gewässern Gerettete dürfen also nicht dorthin zurückgebracht werden. Über die Einstufung Marokkos, Algeriens und Tunesiens wird derzeit noch diskutiert.

Fluchtweg Mittelmeer zu – ein Vollholler?
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Vor zwei Jahren startete die EU "Operation Sophia". Ihr Ziel ist es, Schiffe von Schleppern oder Menschenschmugglern aufzugreifen und zu zerstören. Heuer wurden bereits 37.000 Flüchtlinge gerettet, und über 400 Boote zerstört. Kritik gab es zuletzt, da Erfolge ausblieben. Allerdings ist die Mission auch auf das Seegebiet außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer begrenzt.

  • Welche Maßnahmen sind seitens der EU geplant?

Beim Gipfel in Malta im Februar haben sich die Staats- und Regierungschefs darauf geeinigt, dass mit einem ganzen Maßnahmenpaket die Zahl der Migranten nach Europa gebremst werden soll. Pläne, Auffanglager in Nordafrika, etwa in Libyen, Tunesien oder Ägypten einzurichten, gibt es aber nicht. Bisher hat die EU zusammen mit der Internationalen Organisation für Migration eine freiwilliges Rückkehrprogramm in Libyen gestartet. Von dort aus werden Migranten in deren Heimatländer zurückgebracht. In diesem Jahr waren es bereits 4600 Menschen, bis Jahresende sollen es an die Zehntausend werden, meist kehren die Migranten nach Äthiopien und Nigeria zurück.

  • Welche Vorschläge kommen aus anderen europäischen Ländern?

Die Innenminister von Deutschland und Italien, Thomas de Maizière und Marco Minniti, haben die EU-Kommission vor einem Monat in einem Brief aufgefordert, eine EU-Mission an der Grenze zwischen Libyen und Niger aufzuziehen. Das würde Grenzschutz bedeuten – allerdings nicht für die ganze Grenze. Zudem soll die lokale Bevölkerung dort unterstützt werden. Mit wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen soll die Grenzbevölkerung etwa davon abgehalten werden, mit Schmuggel und Menschenhandel ihr Geld zu verdienen. Auch der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka hat sich dafür ausgesprochen.

  • Umstritten ist das "australische Modell", Flüchtlinge auf Inseln zu internieren. Wie funktioniert das dort?

Ausnahmslos jeder vor Australien aufgegriffene Bootsflüchtling wird auf vorgelagerte Inseln gebracht und interniert – so lautet Australiens "Rezept". Allerdings geriet es ins Kreuzfeuer menschenrechtlicher Kritik. Laut Vereinten Nationen verstößt die australische Asylpolitik der Anti-Folter-Konvention. Konkret wurden etwa die Rechte von Flüchtlingen auf der Insel Manus verletzt – die Regierung musste ihnen dafür eine Entschädigung in Millionenhöhe zahlen. Das Internierungslager soll 2017 geschlossen werden – nicht wegen der Kritik, sondern weil es laut dem Höchstgericht von Papua-Neuguinea illegal ist. Das Internierungslager auf der Pazifikinsel Nauru will man aber weiterhin betreiben. Ende April befanden sich dort 373 Menschen, darunter mehr als 40 Kinder.

Der Flüchtlingsexperte Kilian Kleinschmidt war unter anderem Leiter von Flüchtlingslagern und UNHCR-Mitarbeiter. Er hat die österreichische und die deutsche Bundesregierung beraten.

Außenminister Sebastian Kurz will die Mittelmeerroute umgehend schließen, der Bundeskanzler sagt, das ist derzeit nicht machbar. Was sagen Sie?Kilian Kleinschmidt: Natürlich lässt sich das nicht machen. Wir sprechen hier von tausenden Kilometern Küste, die sich überall eignet, mit einem Boot Richtung Europa aufzubrechen. Selbst wenn wir das in Libyen verhindern könnten, dann weichen die eben in die Nachbarländer aus und fahren von dort los.

Kurz sagt, es geht um eine grundsätzliche Frage: Wenn jemand im Mittelmeer gerettet wird, ist das das Ticket nach Mitteleuropa – oder nicht? Und solange wir diese Frage mit Ja beantworteten, werden sich immer mehr auf den Weg machen.

Wohin sollen wir sie bringen? In die Sklavenlager, unter entsetzlichen Bedingungen in Libyen? Das kann ja nicht die Lösung sein.

Kurz sagt, ein aufgegriffener Nigerianer soll zurück nach Nigeria, ein Äthiopier nach Äthiopien.

Ich bezweifle, dass man täglich solche Massentransporte durchführen kann. In viele Staaten kann man ja gar nicht abschieben, weil es gefährliche Regime sind, Eritrea etwa. Man wird mit einer großen Zahl von Menschen übrig bleiben. Wo sollen die hin? Lager zu machen, in unsicheren Ländern wie Libyen, wird auch nicht gehen, dort geschehen jetzt schon unfassbar schreckliche Dinge mit den Menschen. Das ist keine Lösung.

Das australische Modell, meint der Außenminister, funktioniere aber. Dort werden Flüchtende auf vorgelagerte Inseln gebracht und interniert.

Was die Australier machen, ist einfach kriminell. Die müssen jetzt auch umgerechnet 50 Millionen Euro Entschädigungen an die Flüchtlinge zahlen, weil die Bedingungen auf den Inseln unmenschlich waren. Wenn wir glauben, dass wir so ein Modell mit Libyen machen können, wird das sicher viel teurer und für die Menschen schrecklicher. Und auch die können in Wahrheit nicht verhindern, dass Flüchtlinge in Booten kommen.

Was wären dann Lösungen?

Es gibt keine schnelle Lösung mit dem Zauberstab. Die meisten fliehen ja aus Armut, wegen Gewalt oder Krieg in Nachbarländer. Die wenigsten kommen zu uns. Wir sollten helfen, Afrika Chancen zu geben, um dort die Städte mitaufzubauen, zu investieren, mit Knowhow und Kofinanzierung, um Lebensräume zu schaffen, die auch lebenswert sind. Was die Chinesen in Afrika tun, ist zwar Ausbeutung von Bodenschätzen, aber sie investieren auch gewaltig. Das tun wir Europäer nicht, wir holen uns nur die Bodenschätze.

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