Sechs Tage ist der russische Überfall auf die Ukraine her, da steht Alla Stashchenko in Wien am Hauptbahnhof und wartet. Die 38-Jährige ist so angespannt, wie ein Mensch es nur sein kann. In den vergangenen Tagen hat sie mehr geweint und gebetet als jemals zuvor in ihrem Leben – dafür, dass ihre beiden Söhne, ihre Mutter und ein befreundetes Mädchen es aus Kiew nach Wien schaffen, dafür, dass sie ihre Familie wohlbehalten wiedersehen kann.
Der Zug fährt ein und bringt Stashchenko, was sie sich so sehnlich gewünscht hat. Und trotzdem durchfährt sie ein Schmerz, als sie ihre Kinder sieht. „Sie standen da und ihre Blicke waren leer“, sagt die Mutter. „Und dann war da dieser Geruch: Nach 30 Stunden Flucht waren die Kinder schmutzig. Meine Kinder, bei denen ich immer so viel Wert darauf lege, dass sie sauber und ordentlich aussehen.“
Heute, sechs Wochen später, verfolgt dieser Geruch Stashchenko immer noch. „Manchmal, wenn ich unterwegs bin und mir irgendwo der Geruch entgegenkommt, erschrecke ich“, sagt sie.
Stashchenko hat in der Ukraine Journalismus studiert und hatte ihre eigene, erfolgreiche Produktionsfirma. Als der Krieg beginnt, ist sie auf Dienstreise in Madrid. Sie weiß, sie kann nicht zurück nach Hause, im Gegenteil: Ihre ganze Familie muss raus aus der Ukraine, raus aus der Gefahr.
„Ich weiß gar nicht so genau, warum ich ausgerechnet nach Wien wollte“, sagt sie. „Ich kannte Österreich schon, weil ich hier einmal eine Dokumentation produziert habe. Und ich finde hier alles logisch, U1, U2, U3, ich kann mich gut orientieren.“
Außerdem hat ihr 15-jähriger Sohn Aleksey schon in der Ukraine Deutsch gelernt, weil die Mutter ihn für ein Studium in Österreich oder Deutschland vorbereiten wollte. Nach der Flucht hat die Familie zuerst bei Freunden gewohnt. „Da waren wir zu zwölft, das wurde dann zu eng“, sagt Stashchenko. Über eine Vermittlungsplattform hat sie dann ein kleines Haus in Weissenbach an der Triesting gefunden, dort lebt die Familie nun.
Auf Jobsuche
Ihre Kinder wollte sie so schnell wie möglich wieder in die Schule schicken. Denn der Wert von Bildung ist Stashchenko seit dem Krieg noch stärker bewusst geworden, wie sie sagt: „Wenn du über viel Wissen und Kenntnisse verfügst, kannst du dir immer wieder von Null etwas aufbauen“, sagt sie. Die älteren beiden Kinder gehen ins Gymnasium, der jüngere Sohn Andrew (10) in die Volksschule.
Ihr selbst macht es ihre lange Erfahrung im Medienbusiness nicht unbedingt leichter. Stashchenko hat zwar schon eine blaue Karte , aber noch keinen Job. „Ich habe mich über das AMS für eine Stelle beworben, aber man hat mir gesagt, ich bin überqualifiziert“, erzählt sie. Nun überlegt sie, sich auch in Österreich als TV-Produzentin selbstständig zu machen, will aber vorher noch besser Deutsch lernen. Sogar ihre Mutter, die die Ukraine vor der Flucht kaum verlassen hat und eigentlich gar nicht wegwollte, hat begonnen, online Vokabel zu lernen. „Sie macht mittlerweile schon Witze mit den anderen älteren Nachbarn im Dorf.“
Die letzten Wochen waren anstrengend für die Familie, vor allem für Alla Stashchenko, die alles gemanagt hat. Jetzt, da sie in Sicherheit sind, könnte sie irgendwo sitzen und traurig sein, über das Leben, das sie zurücklassen musste. Aber das wird sie nicht. „Ich habe nur ein Leben, und das ist jetzt einfach ein neuer Abschnitt. Das ist mein Schicksal.“
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