Philosoph Liessmann: "Es geht nicht um das Gute, es geht um Macht"
KURIER: Zum Beginn eines Jahres gibt es immer Überlegungen, welche Themen uns beschäftigen werden. Geht es aber aus philosophischer Sicht nicht letztlich – im Sinne der „Wiederkehr des Gleichen“ – um die selben menschlichen Grundfragen in unterschiedlichen Ausprägungen?
Konrad Paul Liessmann: Ich bin kein großer Freund von solchen Prognosen zum Jahreswechsel. Man müsste sich nur ansehen, was etwa vor einem Jahr vorhergesagt wurde – fast nichts davon ist eingetroffen, aber wir hatten plötzlich ganz andere Probleme. Auf einer sehr generellen Ebene kann man natürlich sagen, dass uns Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Umgangs mit der Natur, des Verhältnisses der Geschlechter seit jeher beschäftigen und weiter beschäftigen werden. Nur die Perspektiven auf diese Fragen ändern sich.
Kann man überhaupt über alles diskutieren? Es gibt ja ein Narrativ, demzufolge man nicht nur bestimmte Ansichten zu einzelnen Themen nicht mehr äußern dürfe, sondern dass bestimmte Themen überhaupt unerwünscht seien.
Ich habe gerade wieder eine Studie zu 16- bis 29-Jährigen in Österreich gelesen – und zahlreiche Umfragen aus Deutschland und Österreich ergeben einen ähnlichen Befund –, der zufolge 70 Prozent eine gewisse Scheu haben, bestimmte Themen anzusprechen bzw. dass es bei etlichen Themen tatsächlich so etwas wie eine medial verfestigte Mainstream-Position gibt, der man lieber nicht widerspricht. Dabei geht es primär um die Fragen LGBTQ und Gender, Migration sowie Islam. Wer sich hier abweichend äußert, weiß, dass er in ein bestimmtes Eck gestellt und verurteilt wird. Auch eine bürgerliche Zeitung darf kein traditionelles Familienbild mehr vermitteln, ohne in den Verdacht des Reaktionären und des Rechtsextremismus zu geraten. Wer gewaltsame Tendenzen im politischen Islam kritisiert, sieht sich umgehend mit dem Vorwurf der Islamophobie konfrontiert. Wer das generische Maskulinum verteidigt, ist sowieso vorgestrig – auch wenn zahlreiche sprachwissenschaftliche und stilistische Überlegungen, ja sogar genderpolitische Argumente für diese ehrwürdige Form sprechen.
Gibt es hier nicht eine Verschiebung von der inhaltlichen auf die persönliche Ebene: Während früher Positionen als politisch inkorrekt galten, gilt es jetzt, vermeintlich Betroffene vor einer behaupteten Verletzung ihrer Integrität zu schützen, Stichwort: trigger warning.
Es ist tatsächlich ein Wechsel in der Argumentation, dass jetzt der alleinige Maßstab für die Vertretbarkeit von Meinungen und Positionen die Befindlichkeit von vermeintlich Betroffenen sein soll. Allerdings agieren hier meistens Stellvertreter von Betroffenen. Selbsternannte Eliten sprechen für andere, um diesen eine Stimme zu verleihen. Wobei es ja grundsätzlich gut ist, dass man die persönliche Betroffenheit in Rechnung stellt. Wenn ich beispielsweise in einem pejorativen Sinn als alter, weißer Mann tituliert werde oder dies als Vorwand benützt wird, um Ideen zu diskreditieren, dann finde ich das auch ungerechtfertigt: ich kann nichts für mein Alter, für meine Hautfarbe, für mein Geschlecht – und ich möchte mir auch nicht vorhalten lassen, dass es ein Fehler gewesen sei, nicht das Geschlecht zu wechseln. Und diese Empfindlichkeit gestehe ich natürlich auch allen anderen Menschen in Hinblick auf abfällige, verallgemeinernde Zuschreibungen zu. Andererseits kann die subjektive Befindlichkeit immer nur ein Aspekt sein, wenn es um Wissenschaft und Erkenntnis geht. Ich glaube, dass es immer noch wichtiger ist, was gesagt wird, und nicht wer vor welchem Hintergrund etwas sagt. Man muss sehen, dass sich durch die gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Neuzeit unglaublich viele Menschen verletzt fühlen mussten. Wir sprechen von den großen Kränkungen, die Kopernikus, Darwin und Freud den Menschen zugefügt haben. Wären diese Kränkungen ein Grund gewesen, diese Erkenntnisse für unzulässig zu erklären, hätten wir kein modernes Weltbild, keine Evolutionstheorie, keine Psychoanalyse.
Also sind auch solche trigger warnings letztlich nichts Neues?
Nein, Warnungen beispielsweise vor Literatur, in der es um Sexualität, Gewalt und Verstöße gegen die herrschende Moral geht, gab es auch früher schon. Vor allem die Jugend wollte man immer schon vor solchen Zumutungen schützen. Dazu kommen neue Sensibilitäten: So gibt es historische Texte, die aus heutiger Sicht als rassistisch gelten müssen. Aber das Grundproblem, dass man meint, Menschen bestimmten Themen oder ästhetischen Gebilden nicht aussetzen zu können, ist alt. Das ist ein paternalistisches Verständnis, das gerade von jenen vorgetragen wird, die ansonsten immer das Patriarchat kritisieren. Erwachsene werden durch diese Bevormundung infantilisiert.
Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet wird, ist „cancel culture“ – gab es diese auch früher schon?
Ich brauche nur an meine eigene Studienzeit zurückdenken: Als ich in den 70er-Jahren in Wien Germanistik studiert habe, ist darüber diskutiert worden, welche Autoren schlicht zu streichen sind – weil bürgerlich, reaktionär, patriarchalisch, auf der „falschen“ Seite der Geschichte. Und schon damals ging es nicht nur darum, diese Autoren kritisch zu reflektieren, sondern darum, sie schlicht zu eliminieren. Ich kann mich an kuriose Debatten erinnern, ob man im literarischen Kanon nicht Goethe, diesen alten Reaktionär, durch Willi Bredel, einen angeblich großen Arbeiterdichter und Kulturfunktionär der DDR, ersetzen sollte. Heute weiß kaum noch jemand, wer Willi Bredel war, aber über Goethe streiten wir immer noch. Und das macht mich zuversichtlich. Es ging und geht bei cancel culture weder um Literatur noch um Ästhetik noch um das Gute – es geht um Machtfragen.
Ein Thema, das vor einem Jahr niemand auf der Agenda hatte, ist der Krieg – der schließlich 2022 alles andere überlagern sollte und auch das neue Jahr wohl stark bestimmen wird. Dabei hatten wir den Krieg in Europa für überwunden gehalten …
Ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen ist, den Krieg für überwunden zu halten. Es gab noch keine Phase der Menschheitsgeschichte, in der keine Kriege stattgefunden haben. Was uns besonders erschüttert, ist, dass dieser Krieg auf europäischem Kerngebiet stattfindet. Außerdem hatten wir gedacht, dass die ökonomische Kooperation zwischen Europa und Russland so stark ist, dass solche militärische Konfrontationen obsolet schienen. Und dazu kommt, dass hier eine Atommacht offen als Aggressor gegenüber einem Nachbarland aufgetreten ist. Das unterscheidet diesen Krieg auch von jenem im ehemaligen Jugoslawien: Belgrad konnte man bombardieren, Moskau kann man nicht bombardieren.
Werden in der Ukraine die „europäischen Werte“ verteidigt?
Ich würde sagen, es werden europäische Interessen verteidigt – weshalb viel dafür spricht, dass nicht nur die USA, sondern auch Europa zumindest ökonomisch einiges auf sich nehmen, um die Ukraine zu unterstützen. Bei der Rede von „europäischen Werten“ wäre ich vorsichtig …
Gibt es diese gar nicht?
Natürlich gibt es die, zumindest als Worthülsen: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte … Aber es ist doch interessant, dass in der Ukraine diese Werte verteidigt und hochgehalten werden sollen, während sie unter anderen Perspektiven als Erbstück eines verwerflichen kolonialistischen Universalismus gelten, das schnellstens entsorgt werden sollte. Die europäischen Intellektuellen müssten sich einmal darüber klar werden, was sie mit diesen Werten wollen. Ich kann sie nicht in der Ukraine verteidigen lassen, aber auf meinem eigenen Unicampus auf dem Altar einer neuen Identitätspolitik opfern. Das geht nicht.
Zuletzt wurde darüber diskutiert, ob man angesichts des Krieges beim Neujahrskonzert den Radetzkymarsch spielen dürfe …
Das halte ich für absurd. Kein Mensch, der den Radetzkymarsch spielt oder hört und dazu klatscht, denkt dabei – zumal bei dem allgemeinen gegenwärtigen Bildungsstand – an den altösterreichischen Feldherrn und seine Kriege. Abgesehen davon ist es klar, dass auch Kriege ihre, im übrigen ästhetisch durchaus interessanten Spuren in der Kunst hinterlassen haben. Darf ich mir jetzt im Kunsthistorischen kein Schlachtengemälde mehr anschauen, Beethovens „Eroica“ nicht mehr aufführen? Natürlich hat der Marsch als musikalische Gattung auch politisch-militärische Wurzeln – aber ein Marsch im Musikverein ist ungefähr so kriegerisch, wie das „Weihnachtsoratorium“ im Konzerthaus christlich ist.
Debatten wie die eben genannte werden oft erst richtig in den sozialen Medien unterzündet. Besteht darin eine Gefahr für den öffentlichen Diskurs, oder bedeutet es einen Zugewinn an Demokratisierung?
Mir scheint, eine Social-Media-Erregung wird überhaupt erst relevant, wenn sie von klassischen Medien aufgegriffen wird. Die sozialen Medien beziehen ihre Bedeutsamkeit erst durch traditionelle Medien. Es spielt sich ja unglaublich viel in den sozialen Medien ab, was außer den jeweiligen Communities niemanden interessiert. Man sollte deshalb eher von asozialen Medien sprechen: Jeder bleibt unter seinesgleichen. Öffentlichkeitswirksam wird etwas erst, wenn die Leitmedien darüber berichten, was sich auf Twitter oder sonst wo angeblich abspielt.
Aber was wiegt mehr: die Befeuerung von Polarisierung, das Befördern von Fake News und „Hass im Netz“ – oder die erweiterten Möglichkeiten eines „herrschaftsfreien Diskurses“?
Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Das war schon bei der Pressefreiheit im 19. Jahrhundert so. In dem Moment, in dem ich Meinungskanäle öffne, besteht die Möglichkeit, dass diese auch für Unerwünschtes verwendet werden. Den ersten Ansätzen der Pressefreiheit folgte auf dem Fuß die unsägliche Kolportage- und Schundliteratur, also der Schmutz. Und diesen Schmutz finden wir natürlich auch unter neuen technologischen Bedingungen. Was jetzt dazukommt: Es geht schneller, es haben viel mehr Menschen die Möglichkeit, sich daran zu beteiligen. Im Ernstfall ist für mich die Freiheit des Wortes immer wichtiger als die Besorgnis vor dem Missbrauch dieser Freiheit. Wobei ich nicht sicher bin, ob hier, etwa bei dem Thema „Hass im Netz“, tatsächlich eine emotionale Wirklichkeit abgebildet wird, oder ob sich Menschen nicht einfach nur den Gesetzmäßigkeiten dieser Plattformen anpassen. Ist derjenige, der ein Hassposting absetzt, wirklich ein hasserfüllter Mensch – oder kalkuliert er einfach, dass je bösartiger und polemischer seine Formulierung ist, er umso mehr Aufmerksamkeit generiert? Ich weiß es nicht. Ich würde gerne einmal den Versuch machen, bestimmte Sätze aus dem Oeuvre von Thomas Bernhard anonym in den sozialen Medien zu platzieren. Es wäre interessant zu sehen, wie man dann auf diese Beschimpfungs- und Hassorgien reagieren würde.
Also kein Grund für Hysterie …
Ich habe immer schon davor gewarnt, in technologische Innovationen zu viele Hoffnungen zu setzen. Bereits in den 90er Jahren war ich skeptisch, was das Demokratisierungspotenzial des Internets betrifft. Ich wurde ausgelacht – denn damals herrschte die Erwartung, das Internet würde uns offener, klüger, besser machen. Dass das nicht eingetreten ist, dass die Menschen im Internet auch ihre dunkelsten Gefühle und abartigsten Phantasien ausleben können und darüber hinaus in einem System, das von zwei oder drei Weltkonzernen beherrscht wird, von Demokratie nicht die Rede sein kann, hat eine unglaubliche Enttäuschung hervorgerufen. Im Grunde passiert im Netz nichts Neues, aber alles intensiver. Stichwort Fake News: Gefälscht worden ist in der Politik immer. Die „Konstantinische Schenkung“, auf der die weltliche Macht der katholischen Kirche beruht, war eine Fälschung. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 wurde durch ein manipuliertes Telegramm, die sogenannte Emser Depesche, provoziert. Kaum gab es die Fotografie, schon wurden Bilder retuschiert: Wo es ging, hat Stalin seinen Rivalen Trotzki aus den Aufnahmen wichtiger Szenen verschwinden lassen. Jetzt kann jeder solche Manipulationen vornehmen und es geht ganz einfach. Im Gegensatz zu Fälschungen im analogen Bereich sind diese in der digitalen Welt viel schwerer nachweisbar, weil es kein „Original“ mehr gibt. Das ist besorgniserregend.
Das diesjährige Philosophicum Lech im September steht unter dem Motto „Alles wird gut“. Das scheint nicht ganz dem gegenwärtigen Empfinden zu entsprechen …
Es wird im Untertitel präzisiert. Der lautet „Zur Dialektik der Hoffnung“. Es geht also um die Widersprüchlichkeit, dass wir einerseits mit Katastrophenszenarien leben, es uns andererseits aber doch nicht so schlecht geht: wir leben weiter, setzen Initiativen, gründen Unternehmen. Es ist zwar alles ganz schlimm – aber es lohnt sich trotzdem zu investieren, seine Kinder in die Schule zu schicken, den nächsten Urlaub zu planen. Ich rede nicht von Optimismus. Das würde im Leibniz’schen Sinne bedeuten, wir leben in der „besten aller Welten“. Das glaubt niemand. Aber wir leben auch nicht in der schlechtesten, wie Schopenhauer meinte. Sondern wir haben die Vorstellung, dass trotz aller Unzulänglichkeiten das Leben lebenswert ist. Und, da zitiere ich jetzt Marx: dass die Menschheit sich nur Aufgaben stellt, die sie auch lösen kann. Auch wenn es Umwege und Rückschläge gibt. Bis zu einem gewissen Grad könne wir uns auch an die widrigsten Umstände anpassen. Vor diesem Hintergrund wäre die richtige Mischung aus aktivistischer Besorgnis und pragmatischer Gelassenheit vielleicht ein guter Ansatz für das neue Jahr.
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