Natürlich ist es schwierig, hier Grenzen zu ziehen – andererseits kann man auch nicht bestreiten, dass es objektive Maßstäbe gibt, will man nicht der Willkür das Wort reden. Wir müssen also versuchen, solche Begriffe zu definieren, sonst geben wir der Vorstellung Nahrung, dass alles nur konstruiert ist. Hass ließe sich etwa bestimmen als eine negative Haltung gegenüber Menschen oder Sachverhalten, die absolut ist: Es geht um eine absolute Verwerfung des Hassobjektes, die für Relativierungen oder Differenzierungen keinen Raum lässt – und die den Hassenden total ergreift.
Viel ist in dem Zusammenhang auch von einer drohenden „Spaltung der Gesellschaft“ die Rede. Kann man eine Gesellschaft überhaupt spalten?
Was wir jedenfalls erleben, ist eine starke Partikularisierung, einen Zerfall der Gesellschaft in Kleinstgruppen oder gar Individuen, die sich dann um ein bestimmtes Thema herum wieder zusammenfinden – meist in negativer Hinsicht. Man verstärkt sich gegenseitig in der Ablehnung bestimmter Verhältnisse oder Personen und tritt gegen andere oder anderes an.
Wo zeigt sich das beispielsweise?
Etwa in der Identitätspolitik, die Opferkollektive definiert, welche von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden und dementsprechend Rechte einfordern.
Welche Rolle spielen da die sozialen Medien?
Sie ermöglichen beides: sachlichen Austausch, das Internet kann ein Forum des Argumentierens sein; aber eben auch das einfache, umstandslose Suchen von Gleichgesinnten rund um den Globus, die sich dann gegenseitig in den sogenannten bubbles bestätigen. Dass in diesen jedes Korrektiv, jede Kontrolle von außen fehlt, kann einer Radikalisierung Vorschub leisten. Noch etwas scheint mir wichtig: Menschen, die an sich sozial isoliert sind, befinden sich hier plötzlich in einer Gemeinschaft, ohne ihre tatsächliche Isolation aufzugeben. Das halte ich für gefährlich. Man ist nicht gezwungen, seine Idiosynkrasien hinter sich zu lassen, um auf andere zuzugehen – sondern man kann der bleiben, der man ist. Dabei verstärken sich bestimmte Haltungen, die sich vielleicht relativieren würden, wenn man analog mit anderen Menschen zusammenträfe.
Sind unsere demokratisch-rechtsstaatlichen Systeme angesichts solcher Entwicklungen in einer Sackgasse? Bräuchte es einen Reset – etwa durch die Stärkung direktdemokratischer Elemente?
Eine verstärkte Bürgerbeteiligung – etwa auf kommunaler Ebene – wäre sicherlich wünschenswert. Aber wenn es um eine Aushöhlung der repräsentativ-demokratischen Verfahren geht, halte ich das für gefährlich.
„Eine von irgendjemandem, auf jeden Fall aber einer Minderheit, ins Spiel gebrachte Position erschleicht sich die Herrschaft, indem sie durch Inanspruchnahme einer höheren Moral die Gegenmeinung ächtet, die Gefolgschaft derer sichert, die auf dem Zug des Zeitgeistes ganz vorne mitfahren möchten, und diejenigen zum Schweigen bringt, die sich bereits in der Minderheit wähnen“: Das ist ein Zitat von Ihnen von 2013 (Jahrbuch für Politische Beratung 2012/2013, hg. von Thomas Köhler, Christian Mertens; Anm.). Stimmt der Befund noch?
Ich würde sagen, das Phänomen hat zugenommen: das Verächtlichmachen des Andersdenkenden durch Moralisierung und Angriffe auf die Person anstelle sachlicher Auseinandersetzung. Das beobachten wir inzwischen auch zunehmend im universitären Bereich – Stichwort cancel culture: Man lädt bestimmte Leute aus, versucht, ihre Veröffentlichungen zu verhindern und Ähnliches. Und verstärkt hat sich auch das Phänomen der schweigenden Mehrheit, die mit diesen Entwicklungen nicht einverstanden ist und die Positionen, die als gesellschaftlich genehm gelten, nicht teilt – die sich aber aus Angst vor Ächtung nicht artikuliert. So entsteht natürlich der Eindruck, dass viel mehr Menschen diese Positionen vertreten, als es tatsächlich der Fall ist.
Der Kern der Political Correctness bestehe in der Idee, dass Ungleichheit – von Verteilung über Bildung bis Gender und sexuelle Orientierung – Ungerechtigkeit sei, haben Sie geschrieben …
Die Demokratie ist eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Aber das muss genau ausbuchstabiert werden. Beide Werte – Freiheit und Gleichheit – sind keine absoluten Werte, sie müssen miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden. Eine bestimmte politische Richtung versucht indes, den Wert der Gleichheit zu verabsolutieren. Das bedeutet dann, Gleichheit auf allen Ebenen als Gerechtigkeit zu verstehen und etwa Chancen- durch Ergebnisgleichheit zu ersetzen. Dazu gehören auch die ganzen Quotenregelungen – nicht nur in Bezug auf Frauen, sondern auf alle möglichen, als „Opfer“ definierten Gruppen. Das alles aber geht zwangsläufig auf Kosten der Freiheit.
Wie ließe sich das aufbrechen?
Man muss den Mut haben, dagegen zu halten und die entsprechenden Mechanismen transparent zu machen. Es geht also darum, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man sich frei äußert, auch andere ermutigt werden, bestimmte Dinge auszusprechen. Es gibt also neben der Schweige- auch so etwas wie eine Redespirale.
Themen wie diese werden oft in Kategorien eines Links-Rechts-Schemas verhandelt. Machen diese Zuschreibungen noch Sinn?
Die identitätspolitischen Opferdiskurse gehen schon von linker Seite aus. Andererseits verschwimmen die Grenzen auch – es gibt Links- wie Rechtspopulismus: Das Denken in Kollektiven ist der Rechten genauso eigen wie der Linken. Denken Sie etwa an den Ethnopluralismus, der die Auffassung vertritt: Kulturen sind in sich abgeschlossen und sollten sich auch nicht durchmischen. Aber ich war immer schon der Ansicht, dass die politischen Extreme einander berühren …
Oft wird gegen politische Erstarrung die Zivilgesellschaft in Stellung gebracht. Was fangen Sie mit dem Begriff an?
Naja, der Begriff wird meist von linker Seite ins Treffen geführt – und gemeint sind dann jene Gruppierungen, die der Linken nahestehen. Wenn man allerdings auch Bewegungen wie Pegida oder die Corona-Leugner als Teil der Zivilgesellschaft betrachtet – und das sind sie ja –, wird die Sache schon schwieriger. Denn dann ist der Begriff wertneutral, insofern er alles umfasst.
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