„Innere Leere und äußere Unruhen“
KURIER: Wir sprechen von einer dreifachen Krise: Corona, Krieg, Klima. Viele meinen, es sei die größte Krise in Europa seit 1945. Ist das so?
Matthias Beck: Mein Doktorvater hat einmal, bezogen auf die Krise der Kirche, gemeint: „Es war noch nie besser.“ Ich glaube, das stimmt generell: Es war in jedem Jahrhundert schlimm – die Pest, die Kriege, bis hin zu den zwei Weltkriegen. So gesehen geht es uns in Europa besser als vielen Generationen vor uns: Wir sind relativ reich, relativ gut gebildet, wir haben eine relativ gute Ethik, basierend auf Menschenwürde und -rechten. Aber es stimmt, wir sind momentan mit einer Gemengelage aus mehreren Krisen konfrontiert, die wir allesamt nicht mehr allein lösen können, weil wir so verflochten miteinander sind.
Was macht das mit uns?
Ich habe den Eindruck, die Menschen werden aufgrund der Unsicherheiten immer aggressiver. Nicht zuletzt durch das Internet werden Hass oder zumindest Aufgeregtheit befördert. Den jetzt lebenden Menschen ging es weitgehend gut – und nun wird es ungemütlicher. Die Menschen haben Angst, ihren Wohlstand – womöglich sogar ihre Existenzgrundlagen – zu verlieren. Dazu kommt, dass uns vielfach das religiöse Fundament wegbricht. Eine gute Religiosität könnte resilienzsteigernd sein und den Menschen mehr innere Kraft geben. Aber die Vermittlung der inneren Stärke ist zu wenig gefördert worden. Ein großer Teil der Menschen ist orientierungslos. Und diese innere Leere prallt zusammen mit den äußeren Unruhen.
Oft ist auch die Rede von einer „Zeitenwende“. Zurecht?
Ich glaube schon, dass das, was wir zurzeit erleben, mehr ist als ein paar Krisenherde. Ich würde von einem Paradigmenwechsel sprechen. Der erste große Paradigmenwechsel war der Abschied vom geozentrischen Weltbild durch Kopernikus und Galilei; der zweite war die Ergänzung der Newton’schen Mechanik durch die Quantenphysik; der dritte – da stecken wir mittendrin – ist verbunden mit Genetik und Epigenetik; der vierte ist die personalisierte Medizin; und der fünfte, der noch aussteht, wäre, dass wir auch in der Theologie den einzelnen viel mehr in den Blick nehmen. Es kommt auf jeden einzelnen an. Das alles zusammen würde schon rechtfertigen, von einer Zeitenwende zu sprechen – aber wir haben sie intellektuell noch nicht eingeholt.
Manche sehen darin auch einen – durchaus willkommenen – Katalysator für einen schon seit langem propagierten „Systemwandel“ …
Von welchem System sprechen Sie? Von einem politischen? Also einen Kommunismus brauche ich nicht mehr. Ich bin in Deutschland, nicht weit von der DDR-Grenze, aufgewachsen. Wenn man mit System das politische System meint, dann bin ich mit dem, was wir in Europa haben, recht zufrieden. Woran es fehlt, das ist Bildung, gute, menschliche Bildung. Das fängt damit an, dass wir kaum noch Griechisch und Latein haben – da hat man strukturiert denken gelernt und sich mit Philosophie befasst. Wir lernen keine Gedichte mehr auswendig, verlernen den guten, differenzierten Diskurs. Wir erwerben skills, aber die Fähigkeit zur Reflexion geht verloren – was auch mit der Schnelligkeit des Internets zu tun hat. Das sieht man auch an den Parlamentsdebatten. Da ist sehr viel persönlicher Angriff und zu wenig substanzielle Diskussion.
Also kein Systemwandel?
Ich sehe wenig Gestaltungsspielraum. Wir können die Menschen nicht grundsätzlich verändern. Was wir tun können und müssen, ist, die Menschen mehr zum eigenständigen Denken zu führen. Bei allem anderen bin ich eher skeptisch. Die Rede vom Systemwandel hat etwas „Marxistisches“ an sich: Wir müssen die Strukturen ändern, dann ändert sich der Mensch. Nein, da bin ich wirklich auf der ganz anderen Seite: Der Mensch muss sich ändern, dann können sich schrittweise auch die Strukturen ändern. Im Grunde haben wir in Europa ja ein vernünftiges Modell: Wir haben Freiheit, können unternehmerisch tätig sein, aber wir sollen die Armen nicht vergessen – daher gibt es Arbeitslosengeld, Sozialversicherung, Krankenkassen; das ist im Prinzip ein christlicher Grundsatz, soziale Marktwirtschaft.
Was lernen wir aus der Krise?
Wir haben vieles zu selbstverständlich genommen. Etwa das Vorhandensein von Lebensmitteln. Wir vernichten unglaublich viel davon. Jetzt fühlen wir wieder stärker, dass die Welt endlich ist: Lebensmittel, Wasser, Klima. Die Katastrophen werden schlimmer. Um da bestehen zu können, brauchen wir mehr Reflexion und inneren Halt.
Immer wieder wird nach der Rolle der Kirche(n) gefragt. Sie seien zu leise, nützten die Chance nicht, die solche Zeiten böten …
Der Volksmund sagt, „Not lehrt beten“. Ich glaube das zurzeit nicht – die Not der Pandemie hat wohl nicht mehr beten gelehrt.
Aber liegt das an der Kirche?
Die Kirche braucht einen Paradigmenwechsel. Die Menschen müssen verstehen, dass die christliche Botschaft jedem einzelnen in seinem Leben helfen soll. Es geht nicht um die Kirche. Die Kirche ist ein „heiliges Mittel“ im Dienst am Menschen, wir nennen das auch Lateinisch „sacra-mentum“ (heiliges Mittel) – dafür, dass die Menschen besser ausgestattet sind für ihr Leben: bessere Entscheidungen treffen, weiteren Horizont haben, nach vorne schauen, Hoffnung über den Tod hinaus. In der Kirche bekommen die Menschen vielfach zu einfache und tote Formeln vorgesetzt. Da müssten wir auch die Priester besser ausbilden, Glaubensfragen tiefer zu durchdringen, Menschen zur Erkenntnis zu führen, Argumente zu schärfen. Man kann heute die Menschen nicht mehr mit religiösen Formeln abspeisen. Sie sind zurecht anspruchsvoller geworden – es geht um Erkenntnis.
Was also wäre zu tun?
Zu mir hat einmal ein Mönch gesagt, es tue ihm so leid, dass sich die Menschen nicht mehr für Religion interessieren. Darauf habe ich gesagt, die Menschen sollten sich nicht äußerlich für Religion interessieren wie für Mathematik, sondern für sich selbst – dann brechen die großen Fragen auf: nach Leid, nach Sinn, nach Beruf und Berufung. Und dann kann man langsam versuchen, Antworten zu geben – von denen das Christentum einige hat.
Ist die Kirche zu sehr mit sich selbst beschäftigt?
Aus der Systemtheorie wissen wir, dass große Systeme immer in Gefahr sind, sich irgendwann nur noch um sich selbst zu drehen. Das gilt für Unternehmen wie auch für die Kirche. Wir diskutieren in der Kirche zu 90 Prozent Strukturfragen und zehn Prozent Inhaltliches, was dem Menschen im Alltag dienen würde. Dabei müsste es umgekehrt sein.
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