Drohende Kurz-Anklage fordert Grüne und die Hofburg
Müsste Bundeskanzler Sebastian Kurz unter den schwierigen Wochen seiner Kanzlerschaft eine besonders schwierige aussuchen, dann würde die, die gerade zu Ende geht, wohl oben auf seiner Liste landen: Mitten in die Aufregung darüber, dass die Verfassungsrichter den Bundespräsidenten in Marsch setzen, um Kurz-Freund und Finanzminister Gernot Blümel zu disziplinieren, platzte am Mittwoch die nächste Hiobsbotschaft. Und diese betraf den Kanzler selbst: Es bestehe der Verdacht, dass Kurz im Parlament wissentlich gelogen hat; und die 58 Seiten starke Argumentation der Korruptionsstaatsanwaltschaft ist so dicht, dass selbst Kurz mit einer Anklage rechnet.
Ein amtierender Regierungschef, der wegen einer Lüge im Parlament vor einen Richter muss? Das gab’s noch nie in der Zweiten Republik.
Sebastian Kurz driftet wieder einmal auf eine Klippe in seiner Kanzlerschaft zu, die Regierung auf eine Zerreißprobe. Der KURIER beschreibt die heikle Ausgangslage, die sensiblen politischen Druckpunkte und welche Auswege es geben könnte.
Die Situation der ÖVP
Vorerst hält sich der messbare Schaden für die ÖVP noch in Grenzen. „Das Vertrauen in den Kanzler hat gelitten. Und ja, auch der Respekt für ihn ist geschwunden“, sagt OGM-Chef und Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer. Doch trotz allem stehe Kurz immer noch vergleichsweise sehr gut da.
Bachmayers Kollege Peter Hajek kann diese These mit aktuellen Zahlen untermauern. Erst Anfang der Woche hat Hajek für profil die Wähler befragt. Sowohl in der Sonntagsfrage als auch bei der Kanzler-Direktwahl bleiben die Werte der ÖVP stabil.
Soll heißen: Die ÖVP liegt bei 34 %. Das ist zwar deutlich unter dem Wahlergebnis von 2019 (37,5 %), aber weit vor der zweitstärksten Partei, der SPÖ mit 23 Prozent.
„Es gibt so etwas wie eine Bodenbildung“, sagt Hajek. „Und die gefestigte ÖVP-Wählerschaft liegt derzeit bei etwa 30 Prozent plus.“
Plus und Minus für Kurz
Auch Hajek ist überzeugt, dass die jüngsten Debatten um die mögliche Missachtung des Höchstgerichts oder die drohende Anklage „Schrammen und Sprünge“ im Image des türkisen Parteichefs hinterlassen wird.
Aber vorerst hätten die Wähler den Eindruck, dass es bei den Vorhalten gegen den Kanzler um semantische Spitzfindigkeiten wie „involviert“ oder „informiert“ gehe.
Hajek: „Die Menschen interessieren sich mehr dafür, wie es mit der Wirtschaft weitergeht, und ob die Regierung Corona im Griff hat.“
Tatsache ist aber auch, dass die Ereignisse noch zu frisch sind, um sich in den Umfragen bemerkbar zu machen. Es dauert etwa zehn Tage, bis solche Vorwürfe sickern.
Instinkt des Wahlkämpfers
Hinzu kommt: „In der Empfindung kommen die Vorwürfe gegen den Kanzler aus dem Untersuchungsausschuss. Und der hat“, so Bachmayer, „als Institution bei Wählern kein gutes Image, weil er wie alle U-Ausschüsse als Show-Tribunal empfunden wird.“ Der Kanzler weiß diesen Umstand zu nutzen. Mit dem Instinkt des Wahlkämpfers hat Kurz in dieser brenzligen Situation sofort reagiert. Wie 2019, als er seine Abwahl im Nationalrat für eine „Jetzt-erst-recht“-Kampagne nutzte, ging der Türkise in einem ZiB 2-Interview in die Offensive.
Fritz Plasser gilt als intimer Kenner des bürgerlich-konservativen Wählermilieus. Der Politikwissenschafter sieht klare Parallelen zu Kurz’ Abwahl vor zwei Jahren: „Die Wähler der ÖVP zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Zufriedenheit und Wertschätzung von Sebastian Kurz aus, und diese Identifikation ist mittlerweile so stabil, dass sie nicht innerhalb weniger Tage erodiert.“
Das Kurz-Manöver, die Justiz als Teil der „Kurz-muss-weg“-Bewegung darzustellen, hat aber zwei Seiten.
Naserümpfen im Bürgertum
Der Mobilisierungseffekt bei den eigenen Anhängern mag wirken. Aber auch für Plasser ist klar, dass „Teilbereiche der bürgerlichen Klientel“ die Nase rümpfen. „Es gibt im elitären Bereich der ÖVP-Wähler viele, die staatlichen Institutionen reflexartig mit Respekt begegnen. Solche Wähler kann die Kritik an der Justiz oder dem Verfassungsgerichtshof natürlich irritieren“, sagt Plasser.
Wie könnte Kurz demnach aus der Patsche kommen?
Blümel-Ablöse als Befreiungsschlag?
Als möglichen „Befreiungsschlag“ bringt Bachmayer einen Personalwechsel ins Spiel. Für den Meinungsforscher ist es zumindest bemerkenswert, dass der „freigiebigste Finanzminister aller Zeiten“ ein derart überschaubares Image hat. „Man darf nicht vergessen: Blümel ist der Finanzminister der offenen Hand und macht nicht auf strenger Säckelwart – trotzdem ist er bei jedem Auftritt in der Defensive.“
Nach dem Vorbild im Arbeitsministerium könnte Kurz als Befreiungsschlag einen Experten ins Finanzministerium hieven. Bachmayer: „Hat Kurz einen zweiten Kocher im Köcher?“
Anklage als rote Linie der Grünen
Aber damit hätte der türkise Parteichef immer noch nicht sein persönliches Problem mit der Justiz gelöst. Und an diesem Punkt kommt auch der grüne Koalitionspartner ins Spiel. Im Parlament hagelt es Misstrauensträge, und die Grünen müssen immer wieder die Türkisen vor einer Abwahl retten. Zuletzt hat die grüne Klubchefin Sigrid Maurer bei Blümel eine Grenze gezogen: Der Beschuldigtenstatus reiche nicht für ein Misstrauen. Aber „sollten neue Vorwürfe oder gar eine Anklage folgen, wäre ein Rücktritt natürlich notwendig“.
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner kündigt im KURIER genau das an: einen Misstrauensantrag gegen Kurz im Fall der Anklage.
Bis jetzt haben sich die Grünen in der Frage einer Kurz-Anklage nicht deklariert. Vizekanzler Werner Kogler schiebt das heikle Thema vorläufig weg: „Davon sind wir noch weit entfernt.“
Klar ist: Die Grünen wollen nicht wählen, sie wollen regieren. Klar ist aber auch, dass sie in ihrem Selbstverständnis als Sauberpartei nicht alles mittragen können.
Aber vielleicht nimmt ihnen ja der Bundespräsident die Entscheidung ab?
Warum der Bundespräsident handeln wird müssen
Der Kanzler wird vom Bundespräsidenten nominiert und kann von ihm entlassen werden. Sollte es gegen Kurz eine Anklage geben, wird sich der Bundespräsident daher nicht verschweigen können – auch deswegen nicht, weil er für die Reputation Österreichs im Ausland verantwortlich ist. Alexander Van der Bellen wird sagen müssen, ob er einen Kanzler vor Gericht für tragbar hält oder nicht.
Experte als Interims-Kanzler?
Wenn nicht, muss das ja nicht in Neuwahlen münden. Vielleicht hat ja Van der Bellen einen Kocher im Köcher? Und wenn dann Kurz freigesprochen wird, kommt er, frei nach Vorgänger Reinhold Mitterlehner, wieder zurück.
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