Die Macht der neuen Alten: "Es wird ein bisserl anders werden"
In Österreich werden pro Jahr durchschnittlich 85.000 Kinder geboren. Es gibt jedoch sieben Jahrgänge, in denen jeweils mehr als 120.000 Kinder geboren wurden. Und diese besonders starken Jahrgänge von 1963 bis 1969 mit ihren in Summe 840.000 Menschen stehen ab 2023 und Folgejahre zur Pensionierung an. Das wird Österreichs Gesellschaft merklich verändern.
Vor allem das Bild der Senioren, und hier wiederum der Frauen, wird sich wandeln. „Es geht nun jene Generation in Pension, in der der Aufstieg der Frauen begonnen hat“, sagt Günther Ogris, Chef des Sozial- und Wahlforschungsinstituts SORA.
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Als Kinder profitierten diese Frauen von der ersten Bildungsexplosion in den 1970er-Jahren, später machten viele Karriere in Banken, in Versicherungen, im Öffentlichen Dienst und in den Schulen. Entsprechend gute Pensionen haben sie jetzt zu erwarten. Ogris: „Es sind natürlich nicht alle so gut situiert, aber es kommen jetzt relativ kaufkräftige Leute in Pension.“
Was für die einen Grund zur Freude, versetzt Ökonomen wie Franz Schellhorn von der Agenda Austria in Alarm. Bis 2027 wird der Zuschuss zum Pensionssystem von derzeit 25 Milliarden auf 38 Milliarden Euro anwachsen, rechnete die Pensionskommission unlängst vor. „Wir versenken Jahr für Jahr das gesamte Lohnsteueraufkommen im Pensionsloch“, wettert Schellhorn.
„Diese Regierung fährt Österreich an die Wand“, twitterte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, erbost über die hohen Staatszuschüsse.
„Wir sind eine Bereicherung“
„Wir sind keine Belastung, sondern eine Bereicherung“, maßregelt Ingrid Korosec, die Chefin des ÖVP-Seniorenbundes, die Schwarzmaler. Das sei auch ökonomisch messbar. Korosec: „Die Pensionisten geben 50 Milliarden Euro im Jahr aus und tragen so ein Viertel zum Privatkonsum in Österreich bei. Und das wird in Zukunft noch steigen.“
Hinzu komme die unbezahlte Arbeit, die derzeit schon 8,6 Milliarden kosten würde, wenn der Staat sie finanzieren müsste. Sehr viel davon werde von Menschen in Pension geleistet, vor allem in der Pflege und der Hospizarbeit. Inzwischen seien oft schon zwei Generationen in Pension, sodass Neo-Pensionisten ihre 90-jährigen Eltern pflegen, sagt Korosec.
Auch Ogris meint, dass die angehenden Pensionisten „eine Chance für das Ehrenamt und die Freiwilligenarbeit sein werden“.
Gesünder und aktiver
Die neuen Alten sind gesünder, als ihre Eltern es im selben Alter waren. Sie sind aktiver, insbesondere die Frauen, weil sie nicht mehr vorwiegend Hausfrauen, sondern berufstätig waren. „Das wird sich schon ein bisserl anders darstellen mit den vielen selbstbewussten Frauen, die im Berufsleben standen“, schmunzelt Korosec.
Sie erwartet, dass sich viele Senioren weiterhin betätigen werden, in unbezahlter, aber auch in bezahlter Erwerbsarbeit. Die meisten würden wohl nicht mehr 40 Stunden arbeiten wollen, aber man müsse eben flexible Modelle anbieten. Die Bandbreite reiche von losen Beratungsverträgen bis hin zu Teilzeit-Angestellten. „Viele wollen im Alter auch kreativ werden“, berichtet Korosec.
"Konstruierter" Generationenkonflikt
Wie wird das Verhältnis zwischen Alt und Jung sein?
Der Sozialforscher hält den oft zitierten Generationenkonflikt für konstruiert. „Man kann das als Volkswirt zwar herbeirechnen, aber die Leute empfinden es nicht so“, sagt Ogris.
Die Alten wollen den Jungen den Aufstieg ermöglichen, und die neuen Senioren würden das besonders stark wollen, weil sie es in den Kreisky-Jahren selbst so erlebt haben, sagt Ogris.
Generell seien die Österreicher in ihrem Wahlverhalten „soziotrop“, sie denken bei der Stimmabgabe nicht nur an sich selbst, sondern an andere Gruppen. Das treffe besonders auf die Pensionisten zu. Ogris nennt Beispiele: Pensionisten hätten damals für den EU-Beitritt gestimmt, nicht, weil sie selbst dafür waren, sondern weil sie der Jugend die Zukunft sichern wollten.
Kurz für die Jungen gewählt
Eine merkliche Anzahl sozialdemokratischer Senioren habe Sebastian Kurz gewählt, weil er eine Modernisierungserwartung geweckt hat (die er dann nicht hielt). Auch hier sei das Wohl der Jungen im Zentrum der Überlegung gestanden.
Oder: In den 70er-Jahren gingen die Alten in Frühpension, um Jungen am Arbeitsmarkt Platz zu machen.
Heute sind auch die Pensionistenvertreter dafür, zumindest das faktische Pensionsalter anzuheben, denn jedes Jahr erspart dem Staat 2,8 Milliarden an Ausgaben.
„In den Seniorenvertretungen sind vielfach Leute, darunter viele Gewerkschafter, tätig, die aus ihrem früheren Berufsleben gewohnt sind, Interessen auszutarieren“, sagt Korosec. „Wir sind solidarisch mit der Jugend und jeder von uns weiß: Die Zukunft sind die Jungen.“
Dennoch: Gegen die Stimmen der Pensionisten wird in Zukunft keine Partei ums Kanzleramt mitspielen können. Die Wahlkampfstrategen werden die Befindlichkeiten der Generation 60 plus berücksichtigen müssen.
Denn die Senioren sind nicht nur viele. Sie gehen auch zu zehn Prozent mehr wählen als die Jungen. Und sie sind nicht so volatil in ihrem Wahlverhalten.
Geeichte Interessenvertreter wie Korosec wissen ihrer Partei die Bedeutung der Alten vor Augen zu führen. Bei der Landtagswahl in Tirol hätte die ÖVP 51 Prozent bekommen, wenn nur die Pensionisten gewählt hätten. Tatsächlich erhielt die ÖVP nur 35 Prozent.
Wahlvolk viel älter als die Wohnbevölkerung
Tatsächlich verschiebt sich das politische Gewicht noch aus einem zweiten Grund in Richtung Alte. Wenn man nämlich die Alterspyramide nach Staatszugehörigkeit betrachtet, springt deutlich ins Auge: Die Senioren sind Staatsbürger, und die Nicht-Staatsbürger sind vorwiegend Menschen im erwerbsfähigen Alter. Anders formuliert: Die Wahlvolk ist deutlich älter als die Wohnbevölkerung.
„Es kann in Zukunft durchaus sein, dass ein österreichischer Pensionist eine Pflegerin hat, die keine Staatsbürgerin ist, eine Putzfrau hat, die keine Staatsbürgerin ist und das Essen auf Rädern von Menschen geliefert bekommt, die keine Staatsbürger sind. Überspitzt formuliert entsteht hier ein neues Dienstbotenvolk ohne Wahlrecht“, sagt Ogris.
Oder ökonomisch formuliert: Ungefähr ein Viertel der Erwerbsfähigen dürfen in Zukunft zwar die Pensionen mitfinanzieren, politisch aber nicht mitreden. Ogris: „Dass das demokratiepolitischen Sprengstoff birgt, versteht sich von selbst.“
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