"Der echte Nehammer ist der lernende Nehammer"

Karl Nehammer
Als Kanzler schlägt er neue Töne an und muss zwei Krisen managen. Warum er nicht an ein Macht-Comeback der Länderchefs glaubt und wie er den Corona-Fleckerlteppich begründet.

KURIER: Herr Nehammer, als Innenminister spielten Sie den Feldwebel, haben von „Gefährdern“ gesprochen. Als Bundeskanzler sind Sie in der Sprache konzilianter. Wer ist jetzt eigentlich der echte Nehammer?

Karl Nehammer: Der echte Nehammer ist der lernende Nehammer. Als die Pandemie begann, waren der Mund-Nasenschutz, das Händewaschen und das Abstand halten der einzige Schutz, den wir hatten. Es gab fürchterliche Berichte und Bilder aus Norditalien mit Stapeln von Toten. Die Gefährlichkeit des Virus’ war nicht in unserem Bewusstsein. Wir waren gefordert, die Menschen darauf zu sensibilisieren. Viele haben damals gesagt, schlimmer als die Grippe wird es nicht sein. Ja, es war meine Aufgabe als Innenminister, darauf hinzuweisen, dass das Virus gefährlich ist. Würde ich die Sprache heute 2021 so wählen? Nein. Denn diese Sprache passt zur heutigen Zeit überhaupt nicht. Meine Bitte ist: Tun wir nicht so, als hätten wir zum jedem Zeitpunkt gewusst, was richtig ist. Wir sind alle mit dem Virus mitgewachsen. Genauso hat sich auch die Sprache verändert.

Heißt das, dass es von Ihnen keine Versprechungen und keine apodiktischen Sätze mehr geben wird?

Ja, total. Weil wir gelernt haben, dass wir das bei diesem Virus nicht tun können. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Als die Bundesregierung Hoffnungsperspektiven nach dem ersten Lockdown gegeben hat, passierte das, weil Psychologen dringend darauf hinwiesen, dass wir mit diesen apodiktischen Sätzen, die Menschen in eine Depression stürzen. Es ist auch die Aufgabe der Politik, Hoffnung zu geben. Deswegen kommen Formulierungen zustande wie „Licht am Ende des Tunnels“ oder „Die Impfung befreit uns“. War das zu viel? Ja. Aber wussten wir, dass sich nur 65 Prozent der Menschen impfen lassen wird? Nein, wussten wir nicht.

Kommen wir zum Lockdown: Die Länder mit der höchsten Inzidenz öffnen, Länder mit der niedrigsten Inzidenz öffnen später. Hat die Regierung die Kontrolle über das Corona-Management verloren, wenn die Länder machen, was sie wollen?

Ich finde den Vorwurf interessant, weil er sich faktisch nicht belegen lässt. Es gilt noch immer der Lockdown für Ungeimpfte. Das ist eine der strengsten Maßnahmen, die es in Europa gibt. Es sind die Mindestabstände und die FFP2-Maske als Mindeststandard definiert. Die Öffnung erfolgt mit Sicherheitsgurt. Es gibt aber auch die Notwendigkeit, in Österreich zu differenzieren. Wir haben Wien als Millionenstadt, im Burgenland eine hohe Durchimpfungsrate, wir haben im Westen sehr viel Grenzverkehr. Da gibt es in den Bundesländern einfach gravierende unterschiedliche Situationen, darauf nehmen wir auch in den Maßnahmen Rücksicht.

Bevor der Corona-Gipfel am Mittwoch stattfand, plädierte der Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Platter für die totale Öffnung. Hätte es das unter Sebastian Kurz gegeben, dass ÖVP-Landeshauptleute vor ihm Corona-Maßnahmen ankündigen?

Das glaube ich schon. Die Entscheidung, die in Achensee gefallen ist, dass alle, auch die Geimpften in den Lockdown gehen, war schwerwiegend. Damals wurde das Versprechen gegeben, dass es nach drei Wochen wieder Öffnungen gibt. Deswegen hat Platter am Sonntag gesagt, es muss Öffnungen geben, damit wir auch die Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Außerdem gibt es einen Negativeffekt des Lockdowns: Die Impfbereitschaft für den Erststich ist wieder dramatisch zurückgegangen.

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