"Das Gefühl, ich werd' übers Ohr gehauen"
Wer dieser Tage die Nachrichtenlage auch nur überfliegt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Egal, wohin man blickt, überall brodeln die Konflikte. Impfskeptiker gegen Wissenschafter, Bundesländer gegen Wien, USA gegen China und Tirol gegen den Rest der Welt. Wie kommen wir da wieder raus?
Die Welt scheint politisch und gesellschaftlich dermaßen gespalten zu sein, dass man den Eindruck hat, wir befinden uns in einer Sackgasse. Wo ist der Ausweg?
Otmar Höll: Die Gemengelage ist paradox: Seit der Globalisierung ist die Welt kleiner geworden. Zugleich sind die wechselseitigen Abhängigkeiten größer geworden. Die logische Konsequenz wäre: Man müsste mehr kooperieren. Doch das Gegenteil hat stattgefunden.
Warum?
Otmar Höll: Menschen wollen Macht. Es geht immer ums Gewinnen. Man muss sich allerdings fragen, ob das auf Dauer gut gehen kann. Vor hundert Jahren waren wir in einer ähnlichen Situation. Es war eine Zeit des rasanten technischen und wissenschaftlichen Fortschritts – die in einen Weltkrieg geführt hat. Von dem viele anfangs begeistert waren. Sie dachten an einen schnellen Sieg. Und das, obwohl die Gesellschaften in Europa sehr eng miteinander verflochten waren, viele hatten einen Krieg nicht für möglich gehalten.
Trotz aller heutiger Polarisierungen: Jetzt von Krieg zu sprechen wäre wohl doch etwas übertrieben.
Otmar Höll: Wir haben doch ein bisschen aus der Geschichte gelernt, ich glaube nicht, dass es in absehbarer Zeit zu einem Krieg kommen könnte. Vielleicht läuft es irgendwann einmal auf eine Konfrontation zwischen den USA und China hinaus, aber Russland wird nicht mehr in der Lage seit, militärpolitisch mitzuhalten wie im Kalten Krieg.
Wir haben keinen Kalten Krieg mehr und doch hat sich der politische Ton verschärft. Die Welt ist konfliktanfälliger geworden.
Otmar Höll: Der Zusammenbruch des Kommunismus hat die bipolare Welt zu einer multipolaren Welt gemacht. Sie ist in kürzester Zeit viel komplexer geworden. Der Westen hat das nicht verstanden und geglaubt, er muss sich nicht verändern. Ein Riesenfehler. Ebenso, dass sich seit damals der Neoliberalismus durchgesetzt hat, auch bei den sozialdemokratischen Parteien. Das hat die Globalverfassung auf eine neue Ebene gestellt.
Braucht diese Welt eine Therapie?
Kathleen Höll: Bevor man von Therapie spricht, muss man die Lage analysieren. Man sollte sich fragen: Welche Konfliktlinien ziehen sich auf der nationalen und auf der internationalen Ebene durch? Welche Interessensgruppen liegen miteinander in Konflikt? Vor allem: Welche wirtschaftlichen Interessen? Wir haben es einerseits mit einer Finanzindustrie zu tun, die wie ein internationales Wettbüro agiert. Und andererseits mit einer Anti-Moderne-Bewegung, die sich gegen die Aufklärung zur Wehr setzt.
Otmar Höll: Dass die Politik versucht, der Wissenschaft vorzuschreiben, zu welchen Ergebnissen sie zu kommen hat, ist aber nichts Neues. Das habe ich schon in den 1990ern am Institut für Internationale Politikwissenschaft gemerkt. So geschieht es jetzt auch.
Kathleen Höll: Auch hier ist eine Bruchlinie: Traditionelle Politik gegen Wissenschaft.
Otmar Höll: Da ist Österreich schon ein spezieller Fall, verglichen etwa mit skandinavischen Staaten. Bei uns gibt es wenig Vertrauen zwischen Gesellschaft und Politik.
Auch nicht erst seit der Pandemie ...
Otmar Höll: Aber sie fungiert als Brennglas. Früher gab es in Österreich eine Große Koalition, die wie ein Zentralkomitee agierte, wo vieles hinter verschlossenen Türen stattfand. Debattenkultur gab es nie. Aber im Grunde hat die Politik-Skepsis ihren Ursprung in der Monarchie. Wir sind ein Untertanenvolk, das sich einerseits nichts sagen lassen will ...
Kathleen Höll: ... und sich andererseits nichts sagen traut. Man sieht die Obrigkeitshörigkeit ja auch am Schauspiel der Corona-Pressekonferenzen, wo die Regierung zu viert aufmarschiert und die Inhalte zweitrangig sind.
Und das ist Österreich-spezifisch?
Otmar Höll: Ja. Das ist die Untertanenmentalität aus der Habsburgerzeit. Und die Zwischenkriegszeit, die im Austrofaschismus gipfelte, war auch nicht gerade ein Erfolgsmodell.
Kathleen Höll: Dazu kommt der Katholizismus. Die Allianz aus Kirche und Kaisertum ist verheerend.
Noch einmal zur Großen Koalition: Da wurde zwar gestritten, aber immerhin miteinander geredet. Heute scheinen die Lager noch viel weiter auseinander.
Kathleen Höll: Ja, da weht heute ein ganz anderer Wind.
Otmar Höll: Die Große Koalition hat keine Verbesserung der politischen Kultur gebracht, wie wir sie in anderen Staaten sehen.
Zurück zur internationalen Ebene: In den USA gibt es nun einen Präsidenten, der davon spricht, dass nun die Zeit des „Heilens“ angebrochen sei. Wird das was?
Otmar Höll: Die USA brechen seit Jahrzehnten auseinander. Strukturell gesehen gleichen die USA einem Dritte-Welt-Land. Sie haben eine kleine Elite, eine sehr schwache Mittelschicht und eine enorm große, verarmende Masse. Wird schwierig, das zu kitten.
Sie haben die skandinavischen Länder so gelobt: Auch dort hat die extreme Rechte enormen Zuspruch. Auch dort polarisiert sich die Gesellschaft.
Kathleen Höll: Dazu etwas Grundsätzliches: Neue Bruchlinien haben auch mit der Sichtbarwerdung von Subkulturen zu tun. Gruppen, die bisher keine Stimme in der Politik hatten, können sich vernetzen und sich gegenseitig hochpushen in ihren Blasen. Das hat positive wie negative Seiten. Damit wird sich die Politik auseinandersetzen müssen.
Auch soziale Medien sind Brandbeschleuniger?
Kathleen Höll: Ja. Ob Brand oder nur Beschleuniger hat damit zu tun, wie man dazu steht.
Otmar Höll: Die Welt ist in den letzten 30 Jahren komplexer geworden. Krisen und Konflikte sind aufgetreten, die vielen das Gefühl gegeben haben, dass sie Angst vor sozialem Abstieg haben müssen. Zum Teil ist das ja auch eingetreten. Dieser Aspekt spielt bei der Polarisierung eine große Rolle und spielt den rechten Populisten in die Karten.
Bei Demos marschieren nun Extremrechte Seite an Seite mit Leuten, die mit rechtem Gedankengut eigentlich nichts am Hut haben, aber manchen Entwicklungen skeptisch gegenüberstehen. Entweder, man gilt als Impfeuphoriker oder als Wissenschaftsleugner. Gibt es keine Graubereiche mehr?
Kathleen Höll: Natürlich. Aber da spielen die Medien auch eine Rolle. Die polarisieren ja auch gerne.
Wenn wir nun den Befund haben: Die Welt ist in ihren Extremen ziemlich einzementiert. Was gibt es für Wege heraus? Hilft Mediation?
Kathleen Höll: Mediation bedeutet, dass zwei ein Verständnisproblem haben und durch Austausch auf eine gemeinsame Linie kommen wollen. In der Politik allerdings ist das Problem meist nicht, dass sich zwei Gruppen nicht verstehen, sondern dass sie unterschiedliche Interessen haben. Es wird also schwierig.
Was ist mit den gesellschaftlichen Extremen abseits der Politik?
Kathleen Höll: Für die gilt das Gleiche. Die Politik ist ja davon nur die Speerspitze. Auch bei gesellschaftlichen Extremen geht es um Interessen. Impfgegner und Impfbegeisterte können noch so lange miteinander reden, es wird nichts dabei herauskommen. Da ist die Wissenschaft gefordert.
Und zwar wie?
Kathleen Höll: Sie sollte den Skeptikern mehr Zeit widmen und fragen: Was brauchen die und welche Wahrheiten drücken sie eventuell aus? Etwa, was das Misstrauen gegen die Politik betrifft. Da ist ja, ganz allgemein gesprochen, durchaus was dran. Man hat oft das Gefühl: Wer am besten trickst, kommt in der Politik nach oben. Daher kommen diese Betrugsfantasien der Menschen. Das Gefühl, ich werd' übers Ohr gehauen, ist massiv. Also wo sollen diese Fantasien landen? Niemand achtet auf diese Leute, niemand vertritt sie, und es läuft ja tatsächlich ziemlich viel schief, was die Verfilzung von Politik und Finanzinteressen betrifft.
Das heißt, Sie sind skeptisch, ob wir aus diesem Schlamassel herauskommen?
Kathleen Höll: Nein, ich bin grundsätzlich optimistisch. Man braucht gar keine Mediation, man muss den Leuten nur zuhören. Viele Menschen fühlen sich gekränkt.
Sich ungerecht behandelt fühlen heißt aber nicht automatisch, auch ungerecht behandelt werden. Die Stürmer des Kapitols waren weiße Mittelständler, nicht die Ärmsten der Armen.
Kathleen Höll: Das stimmt. Es geht auch oft einfach um narzisstische Kränkungen. Umso wichtiger ist die genaue Analyse. In der Therapie muss man immer erst einmal klären: Worum geht’s denn? Ein Allheilmittel gibt es nicht.
Kathleen Höll: Die Politikwissenschafterin und Soziologin studierte in Hamburg, Stuttgart und Wien und lehrte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Höll ist zudem Gestalttherapeutin und Supervisorin mit eigener Praxis in Wien
Otmar Höll: Rechtswissenschafter, Ökonom und Politikwissenschafter, war Otmar Höll Universitätsprofessor in München und Wien (Institut für Politikwissenschaft, OIIP - Österreichisches Institut für Internationale Politik). Seit
2013 im Ruhestand, arbeitet er weiter als Lektor. Höll ist zudem Gestalttherapeut
Agiert die Pandemie als Brandbeschleuniger beim Auseinanderdriften der Pole?
Kathleen Höll. Ja und nein. Einerseits sehen wir auf der wissenschaftlichen Ebene eine weltweite Zusammenarbeit, auch aus der Not heraus. Andererseits hat die Pandemie die sozialen Ungleichheiten verstärkt. Die Konflikte verschärfen sich.
Otmar Höll: Die Bruchlinien, die es vorher schon gab, werden deutlicher. Dass wir auf der ganzen Welt plötzlich direkt auf die gesundheitliche Ebene zurückgeworfen sind, ist eine Situation, wie wir sie historisch noch nie gesehen haben.
Auch das ist paradox: Einerseits berufen wir uns auf internationale Zusammenarbeit in Sachen Corona, andererseits scheitern wir in Österreich gerade am Föderalismus, siehe Tirol: Wir schaffen es nicht einmal, dass alle neun Bundesländer zusammenhalten.
Kathleen Höll: Das ist leicht durchschaubar. Da geht es ausschließlich um wirtschaftliche Interessen und wer mit wem verbandelt ist.
Otmar Höll: Mediation ist deshalb schwierig, weil man die Gruppierungen nicht genau bestimmen kann. Ich habe viel Erfahrung mit politischer Mediation. Aber das ist immer ein Langzeitprojekt und man weiß am Ende nicht, hat das jetzt was gebracht oder nicht? Als Therapeut und als Wissenschafter hat man nur, wenn man Glück hat, ein Leiberl. Ein wichtiger Gedanke sind die eingangs beschriebenen gegenseitigen Abhängigkeiten. Wenn man es schafft, daraus eine Win-win-Situation zu machen, hat man gewonnen. Internationale Mediationen sind heute gang und gäbe. Die politischen Interessen sind aber immer vorherrschend. Ein positives Beispiel für eine gelungene politische Mediation ist Irland, wo die Fronten in der Abtreibungsfrage extrem verhärtet waren. Man hat per Zufallstreffer Leute aus der Gesellschaft ausgewählt, um miteinander zu reden. Die Politik hat sich verpflichtet, das aufzugreifen. Das ist gelungen.
Ohne die Mühen der Ebene geht es also nicht. Versöhnung ist langsam und anstrengend.
Otmar Höll. Ja. So wie Joe Biden jetzt von Heilung spricht: Na, das möcht' ich sehen.
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