Seit 5. Jänner ist Christian Stocker geschäftsführender Bundesparteiobmann der ÖVP - sein Vorgänger Karl Nehammer ebenso Geschichte wie das Wahlversprechen der ÖVP, keine Regierung mit der FPÖ unter der Führung von Herbert Kickl einzugehen. Seit wenigen Tagen sitzen FPÖ und ÖVP an einem Verhandlungstisch, um über eine Koalition zu beraten. Der ehemalige ÖVP-Generalsekretär und Anwalt Stocker (64) im Gespräch über verlorene Glaubwürdigkeit, Herbert Kickl und Andreas Babler.
Christian Stocker: Ich bin fast versucht zu sagen: Mir geht es jede Stunde anders.
Auf einer Skala von Null bis 10? Es kommt auf die Stunde an.
Die Dreier-Koalitionsverhandler sagten, sie „wollen, sie müssen nicht“. Mussten Sie die ÖVP übernehmen, weil es niemanden anderen gibt?
Es geht nicht immer um „müssen“ oder „wollen“. Ich weiß, dass ich damit an Reputation verloren habe, dass meine Glaubwürdigkeit und jene der Politik gelitten hat. Im Wissen, was ich über den FPÖ-Obmann gesagt habe, war das alles andere als eine leichte Entscheidung. Ich bin aber gottseidank in einer Situation, in der ich wirtschaftlich und persönlich unabhängig bin und niemandem gefallen oder noch etwas werden muss.
Ihre Reputation als Anwalt, als Vizebürgermeister von Wiener Neustadt, als ÖVP-Politiker?
Meine Reputation hat eine Delle bekommen. Aber in Abwägung aller Möglichkeiten bleibe ich dabei, dass es die richtige Entscheidung für das Land war. Auch um den Preis, dass ich jetzt etwas mache, was ich vor einer Woche noch ausgeschlossen habe, nämlich eine Regierung mit Herbert Kickl zu verhandeln. Ob eine zustande kommen wird, das werden wir erst sehen.
Sie stammen selbst aus einem politischen Elternhaus, Ihr Sohn ist politisch aktiv. Wie erklären Sie Ihrem Umfeld Ihre 180 Grad-Wende?
Auch für meinen Sohn war es nicht leicht, mit der Situation umzugehen, weil er mich als jemanden kennt, der immer zu dem steht, was er sagt. Ich hoffe, dass ich keine falsche Entscheidung getroffen habe, denn wir werden erst in der Zukunft wissen, ob es für das Land richtig war.
Das heißt, Sie haben innerfamiliär an Reputation verloren?
Die habe ich schon wieder gewonnen. Wenn es politisch so ausgeht wie in der Familie, dann wird alles gut.
FPÖ-Chef Herbert Kickl hat in seiner Rede gesagt, Sie und die ÖVP müssten beweisen, dass Sie es ehrlich meinen, die FPÖ als Wahlsieger anerkennen. Wie werden Sie sich wechselseitig beweisen, dass Sie es „ehrlich“ meinen?
In meiner Rede am Tag danach habe ich gesagt, dass mein Gemüt gut gekühlt ist. Das ist die Voraussetzung dafür, dass professionell verhandelt werden kann. Wir gehen ernsthaft in diese Verhandlungen und mit dem Anspruch, auf Augenhöhe zu verhandeln. Das haben wir mit all unseren Verhandlungspartnern bis dato so gehalten und das erwarte ich auch jetzt.
In Ihrer Rede haben Sie taxativ Dinge angeführt, die allesamt in der Verfassung stehen, wie auch Politologe Peter Filzmaier jüngst bemerkt hat.
Nicht alles, was ich gesagt habe, steht auch in der Verfassung. Die Frage ist, ob wir international kooperieren wollen, und ob wir uns an der freien, westlichen Welt oder an Diktaturen orientieren wollen. Es steht beispielsweise auch nicht in der Verfassung, dass wir ein verlässlicher und aktiver Teil Europas sein wollen, ein Öxit kommt für uns nicht infrage.
Karl Nehammer wollte keinen Sideletter, in dem Vereinbarungen verschriftlicht werden. Sie als Anwalt gefragt: Angesichts der neuen Ausgangslage spricht jetzt mehr für eine Verschriftlichung eines Paktes?
Wir wissen noch nicht, ob es überhaupt zu einem Pakt kommt.
Wie viel Zeit geben Sie sich?
Nicht ich habe den Regierungsbildungsauftrag bekommen, sondern die FPÖ.
Sie können jederzeit aufstehen.
Man kann sich jederzeit hinsetzen und jederzeit aufstehen, aber jetzt haben wir noch nicht einmal wirklich begonnen.
… wenn wir, egal mit welcher Partei, eine Regierungszusammenarbeit vereinbaren, dann heißt das nicht, dass wir ein gemeinsames Parteiprogramm schreiben. Jede Partei bleibt für sich in ihrer Ausrichtung und Programmatik und es findet sich für eine Regierungsperiode eine Aufzählung von Maßnahmen, für die es eine parlamentarische Mehrheit beider Parteien gibt. Nicht mehr und nicht weniger.
Also ein Arbeitsübereinkommen, wie wir es von ÖVP und FPÖ in Niederösterreich kennen?
Ein Regierungsprogramm ist immer ein Arbeitsübereinkommen. Wie man es nennt, das ist vielleicht marketingtechnisch interessant, aber jetzt geht es um Inhalte und Verantwortung für Österreich.
Aufgrund des Budgetdefizits spricht man der ÖVP die Finanz- und Wirtschaftskompetenz ab, aufgrund ihrer Verhandlungen mit Kickl die Glaubwürdigkeit. Wofür steht die Volkspartei?
Dass wir beim Budget Handlungsbedarf haben, das ist unstrittig. Wir sind in Europa und in der Welt mit dieser Aufgabe auch nicht allein. Die ÖVP hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie einen Staatshaushalt in Ordnung halten und wenn es notwendig ist, auch wieder in Ordnung bringen kann. Das ist auch jetzt so. Unser Wirtschaftsprogramm baut darauf auf, dass der Sozialstaat aufrechterhalten werden kann. Wir sind eine Wirtschaftspartei und eine christlich-soziale Partei, die weiß, dass Unternehmertum gefördert werden muss, um Wachstum zu generieren und Wohlstand zu erhalten. Die Idee des Klassenkampfes – der böse Unternehmer, der geknechtete Arbeitnehmer – findet in der Realität nicht mehr statt.
Sie spielen auf die SPÖ und deren Chef Andreas Babler an. Es ist kein Geheimnis, warum die Regierungsverhandlungen nicht gelungen sind.
Hat es explizit mit Andreas Babler zu tun?
Aus meiner Sicht: Natürlich.
Die Neos nennen ihn "Sprengmeister“.
Jeder hat seine Zuschreibung. Für mich kann sich Andreas Babler aus der Welt des Klassenkampfes nicht befreien und er erkennt nicht, dass unser Hauptproblem nicht die Umverteilung ist.
Sollte sich die SPÖ von Babler befreien, um wieder eine Gesprächsbasis zur ÖVP zu haben?
Die SPÖ hat sich für Babler entschieden und damit gegen Verhandlungen, insbesondere gegen massives Bemühen von WKO-Präsident Harald Mahrer. Damit ist die Geschichte vorbei.
Vorbei ist es auch für Alexander Schallenberg, Karoline Edtstadler, Susanne Raab, Martin Kocher, Magnus Brunner und Martin Polaschek in einer Regierungsfunktion. Aus welchem Reservoir können Sie personell überhaupt noch schöpfen?
Leben ist Veränderung, Politik ist noch mehr Veränderung. Wenn es so weit sein sollte, können Sie davon ausgehen, dass es für die ÖVP kein Problem darstellt, Regierungspositionen zu besetzen.
Dass Sie als Jurist das Justiz- oder Innenministerium besetzen könnten steht zur Diskussion?
Besetzungen stehen am Ende von Verhandlungen – ich werde jetzt nicht damit beginnen.
Deutschland wählt am 23. Februar. Sind Sie dann als ÖVP-Chef noch in Verhandlungen?
Kommentare