IV-Chefökonom: "Jetzt, oder wir werden verlorene Jahre durchleben"
Österreich befindet sich in einem "Stagnationsregime", so Christian Helmenstein. Er warnt vor "monströsen Bürokratielawinen" und sagt, woran sich die künftige Koalition wird messen müssen.
Die Konjunkturdaten sind "in ihrer Tragweite gar nicht zu überschätzen“, so der Chefökonom der Industriellenvereinigung, der einen rigorosen Kurswechsel einmahnt.
Christian Helmenstein: Es ist zu begrüßen, dass das Staatsoberhaupt sich geäußert hat, kommt dadurch doch der Ernst der Lage zum Ausdruck. Wir haben es nicht nur mit einer vorübergehenden konjunkturellen Schwächephase, sondern mit einer tiefgreifenden Transformationskrise – im Bereich der Energie und der Mobilität – und einer noch umfassenderen Strukturkrise zu tun, die wir in Österreich zum Teil ohne Not selbst hervorgerufen haben.
Christian Helmenstein: studiert Volks- u. Betriebswirtschaftslehre in Köln, promoviert in Bochum, arbeitet von 1992 - 2004 am Institut für Höhere Studien (IHS). Seit 2004 ist er Chefökonom der Industriellenvereinigung.
Die IV ist eine freiwillige Interessensvertretung und hat laut eigenen Angaben mehr als 5.000 Mitglieder aus dem produzierenden Bereich, der Kreditwirtschaft, der Infrastruktur sowie industrienaher Dienstleistungen.
Was hat Österreich selbst verschuldet?
Die Lohn- und die Produktivitätsdynamik laufen auseinander. Dadurch sind die Lohnstückkosten bei Gütern und Dienstleistungen, die wir auf internationalen Märkten verkaufen wollen, viel stärker gestiegen als beispielsweise in Spanien oder Italien. Im Ergebnis hat Österreichs preisliche Wettbewerbsfähigkeit abgenommen und wir verlieren laufend Marktanteile. Das zweite Problem ist die monströse Bürokratielawine aus Brüssel. Mehr als 400 delegierte Rechtsakte sind in der EU noch in der Pipeline und werden entsprechende Auswirkungen haben.
Die Rechtsakte betreffen alle EU-Staaten.
Das stimmt, aber die Frage ist, ob wir die EU-Vorgaben gemäß Mindestanforderung oder überschießend umgesetzt haben. Häufig haben wir die EU-Standards übererfüllt - Stichwort Gold Plating.
Haben wir die Energiekrise in Österreich unterschätzt?
Österreich hat in besonderer Weise von der Verfügbarkeit günstigen russischen Erdgases profitiert. Lange Zeit wurde das Gas über Baumgarten in das west- und zentraleuropäische Netz eingespeist. Jetzt befindet sich Österreich am Ende des Verteilnetzes und ist auch deshalb mit den größten Preisanstiegen konfrontiert.
Seit 2008 und der Insolvenz von Lehman Brothers ist ein Strukturbruch in der österreichischen Wachstumsdynamik zu verzeichnen. Im Durchschnitt hat die heimische Wirtschaft seitdem nicht mehr das durchschnittliche Wachstumstempo erreicht, das wir vor Lehman hatten. Während der vergangenen Monate hatte ich stets die Sorge, dass wir es mit einem zweiten historischen Strukturbruch beim BIP-Wachstum Österreichs zu tun bekommen könnten.
Und, haben wir eine Zäsur?
Nimmt man die aktuelle Wifo-Prognose als Grundlage, ist genau dies eingetreten: Wir haben es mit einem weiteren Strukturbruch zu tun – und zwar bereits seit dem ersten Quartal 2020, können das aber erst jetzt statistisch festmachen. Der Befund ist in seiner Tragweite gar nicht zu überschätzen! Dass uns eine Stagnationsperiode bevorsteht, das ist kein Menetekel an der Wand, sondern bereits Realität. Wir befinden uns in einem Stagnationsregime. Daraus folgt auch das Wording, auf das sich anscheinend alle in der Politik geeinigt haben.
Sie meinen den Satz: Kein weiter wie bisher?
Ja, denn würden wir vergangenes Verhalten bei der standortpolitischen Gestaltung in Zukunft fortsetzen, dann erleiden wir ein italienisches oder japanisches Szenario. In Italien war während der ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts überhaupt kein reales BIP-Wachstum zu verzeichnen. Die Wohlstandsniveaus Italiens der Jahre 2021 und 2000 waren ident. Italien hat also über 20 ökonomisch verlorene Jahre hinter sich. Ohne einen disruptiven wirtschaftspolitischen Kurswechsel werden wir dieselbe Erfahrung machen – auf unbestimmte Zeit!
Was konkret muss sich grundlegend ändern, um diesem Stagnationsregime zu entkommen?
Wir benötigen einen drastischen Bürokratieabbau. Der hätte den Vorteil, dass er nichts kostet und wirtschaftliche Dynamik freisetzt, weil Wachstum automatisch zu mehr Einnahmen führt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist hier deutlich zu unambitioniert, wenn sie von einem Bürokratieabbau von 25 Prozent spricht. Nach unserem Dafürhalten ist ein Ausmaß von 75 Prozent anzustreben.
Blicken wir auf staatliche Einflussnahmen, zum Beispiel auf Subventionen.
Diese lagen in Österreich im Jahr 2022 trotz einer gewissen Reduktion noch um 80 Prozent über dem Vorkrisen-Niveau. In sechs EU-Mitgliedsländern und der Schweiz waren die staatlichen Förderungen jedoch bereits wieder auf das Niveau von 2019 abgesenkt worden. Dänemark lag sogar 12,5 % unter dem Subventionsniveau von 2019. Die Wirtschaft würde enorm expandieren, wenn drei Viertel der Bürokratie abgebaut würden.
Um das Ziel zu erreichen…
… muss jede Förderung, die in Zukunft beschlossen wird, mit einem Ablaufdatum versehen werden, damit daraus keine Dauersubventionierung wird. Eine Förderung für ein oder zwei Jahre zu gewähren, kann aus politischer Steuerungsabsicht heraus sinnvoll sein, zudem impliziert sie Planungssicherheit für die Unternehmen. Zugleich ist demokratiepolitisch anzustreben, dass über die Verwendung knapper Budgetmittel immer wieder neu verhandelt wird, ob selbige nicht anders besser eingesetzt wären. Ebenso sollten das Gros der Gesetze mit einer Auslaufklausel, einer Sunset Clause, versehen werden. Und noch ein Vorschlag: Berichtspflichten sollten zuerst in der öffentlichen Verwaltung erprobt werden und erst danach, falls für sinnvoll und durchführbar erachtet, auf die Unternehmen ausgerollt werden.
Angesichts des Strukturbruchs, der schon stattgefunden hat, haben wir jeden Grund, um den Wirtschaftsstandort Österreich zu bangen. Diese Sorge sollte alle Akteure und Institutionen unabhängig von spezifischen Partei- oder Personen-Konstellationen umtreiben. Wir schaffen den Kurswechsel entweder jetzt, oder wir werden ökonomisch verlorene Jahre durchleben.
„Jetzt“ bedeutet, die Regierung muss rasch gebildet werden?
Es geht nicht um Symptombekämpfung, sondern um Ursachentherapie. Es kommt nicht auf einige Wochen an, denn es geht um die Zukunft unseres Wohlstandes auf Sicht von Jahren, gar Jahrzehnten. Jede neue Regierung, wer auch immer ihr angehört, wird daran zu messen sein, ob sie sich den Kurswechsel vornimmt und ihn zielstrebig umsetzt.
Trauen Sie den handelnden Politikern das zu?
Für eine attraktive Zukunft ist selbiger alternativlos, sonst wird der Schmerz noch größer werden. Es gibt warnende Beispiele aus anderen Ländern, wie negativ sich unterlassene oder falsche Reformen auswirken können. Das wäre für die Wohlstandsperspektive der Menschen in diesem Land fatal.
Wie sehr wird Österreich in Mitleidenschaft gezogen, sollte es Deutschland schlechter gehen und die Ampel-Koalition zerbrechen?
Spätestens im kommenden Jahr steht in Deutschland ein Regierungswechsel an. Es bleibt zu hoffen, dass eine neue Regierung die notwendigen Reformen angehen wird. Im Erfolgsfall würde Österreich davon enorm profitieren.
Die USA wählen am 5. November einen neuen Präsidenten. Inwiefern wird der Wahlausgang Österreichs Wirtschaft beeinflussen?
Eines vorweg, die USA hatten ihren Strukturbruch in den 1980ern und haben sich seitdem neu erfunden, deshalb sind sie heute im Bereich Digitalisierung und Künstliche Intelligenz so weit vorne. Zugleich haben es die USA geschafft, von einem Netto-Energie-Importeur zu einem Exporteur zu werden. Letzteres ist aber kein Vorbild für Europa, denn dabei handelt es sich um fossile Energieträger. Europa muss es gelingen, zum Produzenten wettbewerbsfähiger erneuerbarer Energie zu werden. Wird Trump Präsident, dann ist zu befürchten, dass wir noch mehr Protektionismus in Form höherer Zölle und anderer Hemmnisse sehen werden. Ein Parameter wird nach der Wahl jedoch bleiben: die amerikanische Verschuldung. Sowohl Harris als auch Trump werden die fiskalischen Schleusen voraussichtlich geöffnet halten. Die USA erkaufen sich derzeit also einen Teil ihres beachtlichen wirtschaftlichen Erfolges durch mehr Schulden und zu Lasten nachfolgender Generationen.
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