In Österreich leben rund 40.000 Russisch-Orthodoxe, darunter viele Russen und Ukrainer. Was die Liturgie betrifft, unterscheiden sie sich nicht von anderen Orthodoxen. Dass sie den Angriffskrieg nicht verurteilen, schon. Den Ton gibt das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen vor, Patriarch Kyrill I. von Moskau. Er schlägt sich seit Kriegsbeginn auf Wladimir Putins Seite, zeiht den Westen „teuflischer Lügen“, die NATO habe den Konflikt provoziert. Darauf angesprochen, meint Bischof Aleksij von der russisch-orthodoxen Diözese von Österreich: „Wir versuchen Äußerungen zu unterlassen, die Schaden anrichten oder Feindschaft oder Verwirrung in die Seelen der Menschen säen könnten. Bitte verstehen Sie dies.“
Die Ukraine sei für Russen „das Heilige Land, wie für die Serben der Kosovo“, meint Priester Radoslav Ristic von der russisch-orthodoxen Kathedrale zum Heiligen Nikolaus in Wien. Er spricht von Brudervölkern, die wieder zusammenwachsen müssen. „Fürst Wladimir hat im 10. Jahrhundert sein ganzes Volk im Dnepr, bei Kiew, getauft.“ Nichts rechtfertige Kriege, doch man müsse die Wurzel des Konflikts verstehen, sagt Ristic: „Der Big Brother über dem Ozean (die USA, Anm.) hat die Brudervölker gegeneinander ausgespielt, dieser Krieg ist jetzt das furchtbare und traurige Resultat.“ Schuld sei der Westen: Woher kommt diese Geisteshaltung?
Die russisch-orthodoxe Kirche stimme mit Putins Propaganda weitgehend überein, sagt Religionssoziologin Kristina Stoeckl: „Die Ukraine wird nicht als eigenständiger Staat gesehen, sondern als Teil des slawisch-orthodoxen Russlands.“ Dazu gehören Russland, Belarus und die Ukraine. Liberal-demokratische Werte haben in diesem ideologischen Konstrukt keinen Platz. Es lehnt Schwulenbewegungen oder nicht-traditionelle Familienbilder genauso ab wie Meinungs-, Kunst- oder Religionsfreiheit. „Dabei ist dieses Konstrukt des christlich-traditionellen Russlands eine Fiktion“, sagt Stoeckl. Warum?
In der atheistischen Sowjetunion unterlag die Kirche massiven Repressionen. Heiligtümer wurden beschlagnahmt, Gotteshäuser umfunktioniert. „Es kann nicht die Rede davon sein, dass Russland eine traditionelle christliche Gesellschaft ist“, sagt Stoeckl. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei die Kirche nicht vorbereitet gewesen auf die Problemstellungen der modernen Gesellschaft. Der Patriarch – und mit ihm Putin – haben diese Leere mit „rechtskonservativen Werten“ befüllt, wie man sie im Westen von ultrakonservativen Christen und rechtspopulistischen Parteien kenne: „Dramatisch ist, dass sich das russische Patriarchat jetzt hinstellt und damit einen territorialen Krieg rechtfertigt.“
Orthodoxe Würdenträger in Kiew verurteilen die Invasion selbstredend. Immer mehr ukrainische Diözesen, die zuvor dem Moskauer Patriarchat angehörten, wechseln die Seiten. Die Absetzbewegung von der „putinisierten Orthodoxie“ hat auch in Europa begonnen. Die russisch-orthodoxe Gemeinde in Amsterdam ist vorerst geschlossen worden. Auch in Österreich dürften zumindest die ukrainischen Gläubigen Abwanderungsgedanken hegen.
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