Arbeit nach dem Corona-Camp: "Goldader der Flexibilisierung freilegen"
KURIER: Herr Professor, Ihr neues Buch handelt davon, was uns nach dem „Corona-Camp“ erwartet. Waren die Corona-Maßnahmen zu hart und wurde damit der Wirtschaft und den Arbeitsplätzen zu sehr geschadet?
Bernd Marin: Asiatische Tigerstaaten wie Taiwan waren seit 2003 gut auf eine neue Pandemie vorbereitet. Noch am 31.12.2019 wurden die Flüge aus Wuhan gekappt und 124 Präventivmaßnahmen erfolgreich umgesetzt. Ergebnis: Taiwan hat nur sieben Tote – ohne Lockdown. Europa und die USA haben den Ausbruch ohne Vorkehrungen acht bis zehn Wochen verleugnet, verschlafen, dann kamen Schockstarre und später Pandemie-Panik. Ein selbst verschuldetes Fiasko, je hunderttausende Tote und ein ökonomischer Kollaps. Die USA haben die meisten Corona-Toten, bis Juni 46 Millionen mehr Arbeitslose, eine Rate doppelt so hoch wie in der Finanzkrise 2008. Die indirekten Todesfälle infolge der Corona-Krise, die nicht am Virus sterben, dürften etwa doppelt so hoch werden wie die Zahl der direkten Corona-Toten.
Woran sterben diese Menschen?
An ihrem beengteren Leben: Schlaganfälle, Gehirnblutungen, Herzinfarkte, vernachlässigte Gesundheitsvorsorge, Suizide aus Depression, Gewalt gegen Leib und Leben, sozialer Abstieg, Armut, Kriminalität. Auch hier ist eine öde Leichenzählerei möglich wie bei den „mit“ oder „an“ Covid-19 – oder der jährlichen Grippe- oder Hitzewelle – Verstorbenen. Hochrechnungen schätzen ca. 342.000 zusätzliche Tote in den USA infolge der Corona-Krise und erwarten 2,3 Millionen Opfer krimineller Straftaten, davon 507.000 Opfer von Gewaltverbrechen. Jedes Prozent Arbeitslosigkeit mehr oder weniger hat eine angebbare Zahl von „Corona-Opfern zweiter Ordnung“. Massenarbeitslosigkeit wäre massenhafter vorzeitiger Tod und weniger gesunde Lebensjahre.
Die Zustände in den USA sind aufgrund des Sozialstaats wohl nicht auf Europa übertragbar?
Nicht der Höhe, aber dem Grunde nach doch. Frankreich etwa ist durch die Gelbwesten so gewaltverseucht wie die USA. Allein im ersten Monat des „confinement“ gab es 15,5 Millionen Polizeikontrollen, teils Gewalttaten mit Brandsätzen, 915.000 Anzeigen im eher glücklosen „Krieg gegen das Virus“.
So gesehen war die Reaktion der Sozialpartner und der Regierung, Kurzarbeit einzuführen und die Menschen selbst unterbeschäftigt in Jobs zu halten, noch wertvoller als gemeinhin gedacht?
Ja, das war ausgezeichnet. Die Sozialpartnerschaft hat sich wieder einmal sehr bewährt. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelangen Lernens von work-sharing durch Kurzarbeit, seit VW in den 1990er-Jahren das erstmals gemacht hat. Es hat sich als Kriseninstrument auch 2008 bewährt. Doch Kurzarbeit ist kein Dauerwerkzeug. Arbeitszeit muss rundum tief greifend neu gestaltet werden.
Da sind die Unternehmer dagegen. Gibt es Modelle verkürzter Arbeitszeit, die sich für die Betriebe rechnen?
Alle Modelle, die wir vorschlagen, brauchen einen historischen Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und müssen sich rechnen – für beide Seiten. Die Sozialpartner könnten gemeinsam Unglaubliches schaffen. Nur was für beide konsensfähig ist, hat Zukunft. Etwa mehr Freizeit für die Arbeitnehmer, dafür längere Betriebszeiten für die Unternehmen. Mehr Ruhezeiten, dafür weniger Leerlauf- und Stillstandszeiten. Weniger Arbeitstage, dafür mehr Werktage. Kürzere Dienstzeiten, dafür erweiterte Geschäfts-, Öffnungs-, Maschinenlaufzeiten. Mehr Wahlmöglichkeiten und Zeitautonomie für Arbeitnehmer, dafür variablerer Einsatz der Arbeitskräfte durch Unternehmen. Bessere Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und Familie, dafür höhere Kapazitätsauslastung. So müsste das Quid pro Quo eines Kompromisses aussehen.
Wie sieht die Wirtschaft und die Arbeitswelt im digitalisierten 21. Jahrhundert aus?
Sie ist charakterisiert von Hochgeschwindigkeit und Hyperproduktivität, maximalem Warenfluss, kaum Lagerhaltung. Just-in-time-Produktion. Kundenbestimmten Servicezeiten. Börsenbestimmtem Ertragsdruck. Interaktivität in Welt-Echtzeit, Sofort-Kommunikation. Mobile Mitarbeiter, rollierende Zeiten, teilrotierende Funktionen. Komplexe Zuliefernetze.
Das klingt nach Mega-Stress.
Deswegen brauchen wir Menschen auch dringend eine gleichzeitige Entschleunigung. Wir haben 86 Tage und 700 Stunden mehr Freizeit im Jahr als unsere Eltern, und trotzdem pausenlosen Stress, Zeitnot, Zeitarmut. Man findet kaum Ruhe. Wir brauchen mehr Erholungszeit und viel mehr individuelle Freiräume. Die Utopie bis 2035 wäre, schrittweise eingeführt, die 4-Tagewoche mit Turnusdiensten statt der derzeitigen „unechten“ Viereinhalb-Tage-Woche mit starren Zeiten. Das wären 28, 32 oder 36 Wochenstunden, 1.500 Jahresarbeitsstunden, bei 183 freien Tagen jährlich, regelmäßige Freijahre und Sabbaticals zwischen drei und zwölf Monaten, 45 Jahre reguläres Arbeitsleben. Eine Freizeitgesellschaft auf Basis einer produktiven Rund-um-die-Uhr Dienst- und Hochleistungswirtschaft.
Rund um die Uhr läuft jetzt schon vieles. Was hätten die Unternehmer von kürzeren Arbeitszeiten?
Sie brauchen Flexibilität. Das ist ihr oberstes Gebot im hohen globalen Konkurrenzdruck zwischen Brasilien und Bangladesch, Vietnam und China. Diese Goldader der Produktivitätssteigerung sollten sie kriegen als Gegenleistung für verkürzte Arbeitszeit und familienfreundliche Flexibilität – von Wahlarbeitszeit und Vertrauensgleitzeit über Heimarbeit bis zum Recht auf (unbezahlte) Auszeiten für Familie, Pflege, Weiterbildung, eigene Projekte. Der Kompromiss muss die Realitäten und Zwänge beider Interessen abbilden.
Wie kann ich Flexibilität von Arbeitnehmern herstellen?
Es gibt das US-amerikanische Modell flexibler Beschäftigung, des „hire & fire“, der „gig economy“, der britischen „zero-hour-contracts“, einer Art neuer Stundenlöhnerei, die nur noch reale Inanspruchnahme bezahlt, nicht Warte- und Stehzeiten. Auch China geht den Weg ultraliberal-frühkapitalistischer Ausbeutung, kommunistisch kostümiert. Das sollten wir Europäer ebenso wenig tun wie Einkommensflexibilisierung durch Lohndumping. Das Europäische Sozialmodell wäre Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsorganisation. Das heißt: Entkoppeln von kürzerer Arbeitszeit und längerer Betriebszeit, Vollkonti-Maschinenlaufzeiten, liberale Öffnungszeiten, rund-um-die-Uhr- Notfallservice wie in Spitälern und Apotheken, Telefonseelsorge, Abschlepp-, Sanitär- und Schlüsseldiensten, Lieferservices usw. Die Kundenbedürfnisse bestimmen die Betriebszeit, nicht die Anbieter.
Das läuft auf Arbeiten im Schichtmodus hinaus.
Genau. Es braucht, wie bei den Nachtapotheken oder Spitalsambulanzen, Wechselschichten und Mehrfachbesetzungssysteme, etwa 11 Arbeitnehmer auf 3 Vollkonti-Stellen. Mit Turnusdiensten könnten die Betriebe tendenziell rund um die Uhr laufen. Man braucht maßgeschneiderte, sektorale und saisonale Lösungen, weil Tourismus und Gastronomie, Ernte in Landwirtschaft und Weinbau, Nachrichtenagenturen, Automobilfabriken, Spitalsambulanzen, Theater oder Festspiele, Reinigungsdienste und pharmazeutische Testlabors je ganz anders funktionieren. Die hohe Diversität und Komplexität bietet einer klugen und starken Gewerkschaft zahllose Kompromisschancen als Angebot an Unternehmen. Man legt gemeinsam die Goldader der Flexibilisierung frei, doch nur gegen faire Beteiligung an ihren Gewinnen.
Wie sieht die Bezahlung beim flexiblen Arbeiten aus?
Das Entgelt ist absolut konstant. Man erhält 100 Prozent, egal ob in dem Monat gar nicht oder 40 oder 110 Prozent gearbeitet wurde.
Das ist das Ende der Überstunden?
Nicht das Ende von Überzahlungen und Zeitkonten, aber von herkömmlichen Überstunden, die eher zu frühindustrieller Fabriksarbeit passen als zu nachindustrieller Dienstleistungsökonomie. Letztere braucht viel mehr Flexibilität, Durchrechnungszeiträume von einem Jahr oder längeren Projektperioden wie in Kollektivverträgen der deutschen Chemieindustrie. Ein Pionier der Zeitkonten war BMW in Regensburg. Ein Arbeiter dort hat 183 freie Tage, also den größeren Teil im Jahr frei. Jede dritte Woche ein – sehr populäres – langes Wochenende von Freitag bis Dienstag, erholsame mehrtägige, planbare Freizeitblöcke, mehr Freiraum für Familie, Hobbys, Ehrenamt, was immer. Gute Einkommen ohne Überstunden-Hamsterei. In Dänemark etwa können die Arbeitnehmer wählen, ob sie lieber eine sechste Urlaubswoche oder mehr Einkommen statt einer kürzeren Arbeitszeit wollen. Andererseits können „atmende Fabriken„ ihre Auslastung enorm erhöhen und zum Beispiel den Ferragosto abschaffen.
In Summe klingt das nach einem Wechsel von hohem Arbeitseinsatz und Freizeit- bzw. Entfaltungsphasen.
Genau. The world doesn’t owe us a living, wie Anthony Giddens, Vordenker von New Labour und Theoretiker des „Dritten Weges“ formulierte – nachgeschmissen wird uns beides nicht. Wir brauchen mehr Ruhezeit für uns – und weniger Shutdown für den Wertschöpfungsapparat.
Muss man in dieser neuen Arbeitswelt auch an den Lohnnebenkosten drehen?
Die Grundannahme ist, dass eine Arbeitszeitverkürzung hohe Produktivitätsschübe freisetzt. Das ist vielfach untersucht: Der Lohnausgleich finanziert sich teilweise selbst.
Hannes Androsch sagt, das stimme nicht.
Ich kenne ihn gut und schätze das meiste, was er sagt, sehr. Aber hier haben seine Eigeninteressen als Industrieller Vorrang. Doch im Gegensatz zu Doskozil kennt Androsch sich bestens aus und weiß, wovon er spricht.
Wird das Homeoffice zur Dauereinrichtung werden?
Es sieht ganz danach aus, weit mehr als man noch vor ein paar Monaten hoffen hätte dürfen. Alle Studien weisen in die Richtung vervielfachter Tele-Heimarbeit. Sensationell die weltweite Neuorientierung der 170-jährigen Siemens AG, Sie bietet sogar Wahlarbeitsorte (siehe Substory). Corona hat schon jetzt einen historischen Entwicklungsschub ausgelöst. Das Homeoffice ist von drei auf bis über 60 Prozent angestiegen. Weithin wird Vertrauensgleitzeit ohne Stechuhr praktiziert. Auf Zoom ist die Zahl der Konferenzen von zehn auf 300 Millionen am Tag explodiert – Videokonferenzen haben sich mehr verbreitet als die Viren im März und im April.
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