Eineinhalb, zwei Tage herrschte wegen eines Corona-Alarms Ausnahmezustand in der türkis-grünen Bundesregierung: Ein enger Mitarbeiter von Kanzler Sebastian Kurz war positiv getestet worden. Enge Kontaktpersonen mussten isoliert werden und sich testen lassen – auch der Kanzler, und das zur Sicherheit gleich zwei Mal.
Beide Tests waren negativ, so die Entwarnung am Dienstagabend. Und dennoch – seit US-Präsident Donald Trump vergangene Woche an Corona erkrankt ist, drängt sich auch in Österreich die Frage auf: Was, wenn der Regierungschef krank wird, ins Spital muss, für längere Zeit ausfällt?
Die Bundesverfassung hat für einen solchen Fall vorgesorgt – allerdings nur sehr dürftig. Ludwig Adamovich, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs und Berater von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, sieht einige Lücken.
Wenn der Kanzler positiv auf Corona getestet wird, kann er aus der Isolation im Bundeskanzleramt weiterregieren. Es gibt dort Feldbetten, zudem führen unterirdische Gänge unter dem Ballhausplatz in die Hofburg und ins Innenministerium.
"Der Schlüsselbegriff lautet ,verhindert‘ – aber wer das bestimmt und was es genau bedeutet, bleibt offen.“
von Ludwig Adamovich, Ex-VfGH-Präsident
Wenn Kurz schwerer erkrankt wäre und ins Spital müsste, übernimmt laut Artikel 69 der Bundesverfassung der Vizekanzler seine Amtsgeschäfte.
Fiele auch Werner Kogler aus, käme das dienstälteste Regierungsmitglied zum Zug. Bei gleichem Dienstalter entscheidet das Lebensalter – das wäre aktuell Bildungsminister Heinz Faßmann mit 65 Jahren.
Nicht klar geregelt ist das Drumherum – Details, Definitionen. "Der Schlüsselbegriff für den Vertretungsfall lautet verhindert“, erklärt Adamovich. "Verhindert“ weil krank oder "verhindert“ weil keine Zeit – das sei nicht definiert. Das heißt: Wenn Kanzler Kurz sich nicht in der Lage fühlt, seine Amtsgeschäfte zu besorgen – aus welchen Gründen auch immer –, erklärt er sich selbst als verhindert. Die "Amtsunfähigkeit" wäre also eine Selbstdiagnose.
Heikel werde es, wenn andere Regierungsmitglieder der Meinung wären, er sei nicht dazu in der Lage – er selbst aber weitermachen will, erklärt Adamovich.
"Es wäre sinnvoll, eine Lösung in der Verfassung zu verankern.“
von Ludwig Adamovich, Ex-Präsident des Verfassungsgerichtshofes
Über Umwege könnte man einen mutmaßlich amtsunfähigen bzw. verhinderten Kanzler einbremsen, indem man einen seiner Akte beim Verfassungsgerichtshof anficht, sagt Adamovich. In letzter Konsequenz bliebe nur eines: Der Bundespräsident könnte den Kanzler entlassen.
Ob so etwas in der Zweiten Republik schon einmal Thema war? "Das Problem hat sich in manchen Fällen schon angedeutet. Es gab auch Bundespräsidenten, die sehr krank waren. Aber es ist nie so weit gekommen, dass es einen Beschluss brauchte – vorher hat man eine andere Lösung gefunden“, erzählt Adamovich.
Er betont: "Es wäre sinnvoll, eine Lösung in der Verfassung zu verankern.“ In einigen anderen Ländern gebe es für solche Fälle ein Prozedere beim Verfassungsgerichtshof, in Österreich nicht.
Verfassung und Mathematik
Keinen Notfallplan gibt es außerdem, wenn mehrere Regierungsmitglieder ausfallen: Für einen Beschluss im Ministerrat muss mehr als die Hälfte zugegen sein, Videokonferenzen sind zulässig. Damit der Nationalrat beschlussfähig ist, braucht es für einfache Gesetze die Anwesenheit von einem Drittel der Abgeordneten, bei Verfassungsmaterie von mehr als der Hälfte.
Der Bundespräsident wird vom Bundeskanzler vertreten, sonst tritt das Kollegium der Nationalratspräsidenten als Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber ein. Das hatten wir schon einmal, als Heinz Fischer 2016 aus dem Amt ging und es nach der Aufhebung der Hofburg-Stichwahl noch keinen Nachfolger gab.
"Mit der Verfassung ist es wie mit der Mathematik“, sagt Adamovich. "So schön sie ist, irgendwann steht man an, weil das Problem noch nie jemand zu Ende gedacht hat.“
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