"Das Unvorstellbare wird in Belarus gerade Wirklichkeit"
Vogelgezwitscher weckt Julia Cimafiejeva am Morgen. Wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht die 39-Jährige die dichten Bäume des Grazer Schloßbergs, „ein kleines Paradies“, nennt sie es im Gespräch mit dem KURIER. Wenn man sie fragt, ob sie sich derzeit sicher fühle, stockt ihre freundliche Stimme, ehe sie zögernd antwortet: „Ja, prinzipiell schon.“ Aber Julia Cimafiejeva weiß, wozu Belarus, ihre Heimat, fähig ist.
Gemeinsam mit ihrem Mann Alhierd Bacharevic befindet sie sich seit November 2020 in der steirischen Landeshauptstadt im Exil. Möglich gemacht hat dies für das Schriftsteller-Ehepaar das Literaturstipendium „Writer in Exile“, das die Stadt Graz und die Kulturvermittlung Steiermark seit 24 Jahren vergeben. "Wir sind der Stadt Graz sehr dankbar", sagt sie. Aus ursprünglich geplanten sechs Monaten ist bereits ein Jahr geworden, nun läuft das Visum bis Mai 2022. „Die Verlängerung des Stipendiums belastet natürlich ordentlich das Budget unseres Vereins“, sagt Luise Grinschgl, die Geschäftsführerin der Kulturvermittlung Steiermark, „aber wir spüren, dass wir in diesem Fall einen wichtigen Beitrag für etwas Größeres leisten.“
Wie viele andere belarussische Bürger, die sich auch nur Millimeter von der von Diktator Alexander Lukaschenko gezogenen Regime-Linie entfernen, müssen auch Julia Cimafiejeva und ihr Mann Alhierd Bacharevic im Falle einer Rückkehr um deren Freiheit – oder schlimmer: um deren Leben – fürchten. Für internationales Aufsehen sorgten jüngst zwei Fälle: Während sich die belarussische Olympia-Athletin Kristina Timanowskaja gegen eine befohlene Heimkehr aus Tokio erfolgreich widersetzte, wurde der Aktivist Witali Schischow in seinem Exil in Kiew erhängt aufgefunden.
„In Belarus wird das Unvorstellbare gerade Wirklichkeit“, sagt Cimafiejeva, „niemand hätte vor kurzer Zeit noch gedacht, dass das Regime dazu wirklich fähig ist.“
Die Dichterin wählt ihre Worte sorgfältig. Denn es steht gerade viel auf dem Spiel für die 39-Jährige und ihre Familie. Ihr Bruder Piatro, seine Frau und 14 weitere Freunde und Weggefährten wurden am Montag von einer Spezialeinheit in Gewahrsam genommen. Die Gruppe feierte unweit von Minsk einen Geburtstag, als die Einsatzkräfte schwer bewaffnet das Areal stürmten.
Während die meisten mit geringen Strafen wieder auf freiem Fuß sind, sitzen Bruder Piatro, Frau Julia und drei weitere noch bis zum 12. August in Untersuchungshaft, ehe ihnen der Prozess gemacht wird. Vorgeworfen wird der Gruppe, im Rahmen der Proteste gegen die Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020 die öffentliche Ordnung gestört und andere Demonstranten angestachelt zu haben. Das Strafmaß liegt zwischen zwei und fünf Jahren. Dabei soll Piatro, so erzählt es seine Schwester Julia Cimafiejeva, gemeinsam mit seiner Fantasy-Folk-Band Irdorath musiziert und getrommelt haben.
Trotz Pandemie war es für viele in Belarus ein Sommer des Aufbruchs. „Ich spüre ein Gefühl von Glück, Freiheit und Unwirklichkeit angesichts dessen, was geschehen ist“, notierte Julia Cimafiejeva damals. Tag für Tag versuchte sie, die Aufbruchsstimmung von Hunderttausenden in ihrer Heimat in Worte zu fassen. Jener Sommer mag weit weg erscheinen, nicht nur zeitlich, aber immerhin geblieben ist das Werk „Minsk. Tagebuch – Chronik einer Revolution“ (edition Fototapeta), das mittlerweile als historisches Dokument dient.
„Ich bin Schriftstellerin. Ich arbeite mit Wörtern“, sagt sie. Ihren Protest führt sie auf ihre Weise auch aus dem Grazer Exil fort. Seit Monaten schreibt sie Karten mit Botschaften an politische Gefangenen in Belarus. 600 Personen sind es laut offiziellen Angaben, vermutlich aber deutlich mehr. Im Herbst will sie die Aktion ausweiten: Menschen aus der ganzen Welt sollen belarussischen Oppositionellen in Haft wie derzeit etwa Maria Kolesnikowa Nachrichten schreiben können. „Mir ist wichtig, dass die Leute in den Gefängnissen nicht die Hoffnung verlieren“, sagt Cimafiejeva. Sie selbst habe immer Hoffnung. „Es geht doch um meine Heimat, auch wenn mir bewusst ist, dass ich sie noch einige Zeit nicht sehen werde.“
Europa und die gesamte Welt sollen nur genau hinsehen nach Belarus – und auch zum großen Verbündeten nach Russland. „Das andere Monster“, sagt Julia Cimafiejeva, „was dort passiert, ist um nichts besser.“
80,08 Prozent der Stimmen sicherte sich Alexander Lukaschenko bei den am 9. August 2020 zu Ende gegangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus. Der Urnengang gilt als Scheinwahl, da relevante Gegenkandidaten festgenommen wurden und Wahlmanipulationen nachgewiesen werden konnte.
Begleitet wurde die Wahl von Massen-Protesten, allein bis zum 13. August 2020 wurden mehr als 6.000 Demonstranten festgenommen, rund 250 wurden bei Ausschreitungen verletzt. Viele Oppositionelle hatten sich rund um die Wahl ins Ausland abgesetzt, darunter die Regimekritikerin und Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja.
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