Wirtschaft ohne Wachstum – geht das?

Der Krieg in der Ukraine, Rekord-Inflation und die Klimakrise - die Österreicher blicken so pessimistisch in die Zukunft wie seit 50 Jahren nicht mehr. Zurecht? Zum Jahreswechsel befragen wir Experten aus sechs verschiedenen Disziplinen dazu, wie sich unsere Welt in den nächsten zehn Jahren verändern wird. Den Beginn machte der Politologe Herfried Münkler. In Teil zwei sprachen wir mit der Arbeitsforscherin Lena Marie Glaser darüber, ob wir künftig nur mehr vier Tage oder gar noch weniger arbeiten werden. Im dritten Teil ging der Migrationsexperte Gerald Knaus der Frage nach, ob in Zukunft unzählige Klima-Flüchtlinge nach Europa strömen werden. Sie finden alle Artikel gesammelt hier.
"Ich bin keine Kapitalismuskritikerin", betont Ulrike Herrmann vor dem Gespräch. "Wir verdanken dem Kapitalismus unseren Wohlstand." Doch die Weltgesellschaft lebt am Rande der planetaren Grenzen, die Art des Lebens und Wirtschaftens gefährdet Umwelt, Klima und die Menschheit selbst. Wie kommen wir da wieder raus? Der Publizistin zufolge, indem wir uns an der britischen Kriegswirtschaft ab 1939 orientieren und zurückkehren ins Jahr 1978.
Ulrike Herrmann studierte Geschichte und Philosophie und ist Wirtschaftskorrespondentin der deutschen taz. Von 1984 bis 1989 war sie Mitglied der CDU, danach bei den Grünen.
Bücher
"Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden" (2022); "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (2019); "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie – oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (2018) u.v.m.
KURIER: In Ihrem neuen Buch lassen Sie kein gutes Haar an unserer aktuellen Wachstumswirtschaft. Und Sie sagen, Sie sind keine Kapitalismuskritikerin?
Ulrike Herrmann: Ich bin fasziniert vom Kapitalismus, weil er uns Wohlstand gebracht hat. Doch dummerweise braucht er Wachstum, um stabil zu sein. In einer endlichen Welt können wir aber nicht unendlich wachsen. Wir stoßen an absolute Grenzen. Die Rohstoffe werden knapp, die Umwelt wird zerstört. Deswegen brauchen wir ein neues Wirtschaftssystem: Wir brauchen grünes Schrumpfen.
Die Idee von Degrowth ist nicht neu, allerdings sehr umstritten.
Degrowth beschreibt die Vision einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, wo man nur noch verbraucht, was recycelt werden kann. Man teilt die Waschmaschine mit den Nachbarn, kauft nur mehr langlebige Konsumprodukte, isst regional und saisonal. Die Frage ist, wie kommen wir dahin, ohne dass Millionen Menschen arbeitslos werden und Angst haben, ihren Wohlstand zu verlieren? Denn sonst besteht die Gefahr – das wissen wir aus der deutschen und österreichischen Geschichte –, dass die Menschen einen rechtsradikalen Diktator wählen, der ihnen Sicherheit und Führung verspricht.

Autorin Ulrike Herrmann.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass uns dabei die britische Kriegswirtschaft von 1939 helfen könnte. Wie das?
Der Vergleich dient als Anregung, wie Schrumpfen gelingen könnte. Die Briten haben 1939 den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen, haben mit ihrer Appeasement-Politik versucht, Hitler zu besänftigen. Plötzlich musste die Friedenswirtschaft heruntergefahren werden, um Waffen, Munition und Panzer zu produzieren.
Die Briten haben eine neue Wirtschaftsform erfunden: eine demokratische, private Planwirtschaft – völlig anderes als das, was sich parallel unter Stalin in der Sowjetunion abgespielt hat. Unternehmen blieben in privater Hand; der Staat hat Vorgaben gemacht, was produziert wurde und die Verteilung knapper Güter übernommen. Jeder bekam das Gleiche. Diese Rationierung war populär und hat den Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt. So eine "Überlebenswirtschaft" brauchen wir auch.
Heute haben wir neue Technologien und grüne Energie. Wird uns das nicht retten?
Nein, der Ökostrom wird nicht ausreichen. Zwar schickt die Sonne 5.000 Mal mehr Energie zur Erde, als die Menschheit benötigen würde, wenn alle so lebten wie im Westen. Aber es ist aufwendig und teuer, Ökostrom langfristig zu speichern. Technologische Neuerungen wie E-Autos werden uns nicht retten, weil es sich nicht rentieren wird, wenn darin im Schnitt nur 1,3 Personen transportiert werden.
Bleiben wir bei der Autoindustrie: Was soll aus den Beschäftigten in dieser Branche werden?
Es wird genug Arbeitsplätze geben. Der Klimaschutz ist ein gigantisches Infrastrukturprojekt: Es brauchen noch viele Menschen Solarpaneele, Windräder und Wärmepumpen; alle Gebäude müssen gedämmt werden. Für den grünen Wasserstoff brauchen wir Elektrolyseure, Pipelines und zusätzliche Gaskraftwerke. Aber diese Neuorientierung muss man staatlich planen, das kann man nicht dem Zufall überlassen.
Wachstum ist gleich Wohlstand, so lautet das Credo der in westlichen Marktwirtschaften dominierenden Wirtschaftstheorie. Sie wurde mit der Industrialisierung Europas im neunzehnten Jahrhundert populär.
Wachstum bedeutet in diesem System nicht nur Wohlstand, sondern auch Stabilität: Heute gilt das BIP – der Wert aller produzierten Güter und Dienstleistungen in einem Jahr – als wichtigste Wachstumsgröße für Wirtschaftsforscher. Ist dieses negativ, drohen Arbeitslosigkeit, Armut, Inflation und Krisenstimmung.
Das Problem ewigen Wachstums: die endlichen Ressourcen, auf denen es baut. Öl, Gas, Wasser, Land und Ackerbauflächen gibt es auf der Welt nur begrenzt. Gleichzeitig machten Fortschritte in Technik und Medizin die Menschen älter, sorgten für eine wachsende Weltbevölkerung und mehr zu stillende Bedürfnisse.
Die Diskussion über eine Entkopplung von Wirtschaft und Wachstum ist daher nicht neu, Ökonomen zerbrechen sich darüber seit Jahrzehnten den Kopf. Überzeugte Marktwirtschaftler setzen weiterhin auf technische Fortschritte im Kampf gegen endliche Ressourcen. Ökonomen, die diesem Dogma kritisch gegenüberstehen, gehören etwa zur Postwachstumsbewegung.
Vertreter fordern eine Verringerung von Konsum und Produktion aus sozialen Gründen – etwa, um das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu stoppen, aber auch aus ökologischen Gründen – und kritisieren die Gleichsetzung von Wachstum und Wohlstand. Problem des Ansatzes ist jedoch, wie der Wechsel in dieses System geschafft werden kann – ohne Arbeitslosigkeit und Krisenstimmung zu riskieren.
Und wenn wir so weiterleben wie bisher? Welche Ressource würde in Europa als erste knapp werden?
Wasser – sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Mitteleuropa wird sich durch die Klimakrise nicht in eine Wüste verwandeln, aber Dürren und Hitzewellen werden sich häufen. Im schlimmsten Fall muss irgendwann der Staat entscheiden, wie viel Wasser die Unternehmen, die Landwirtschaft und die Haushalte bekommen.
Worauf müssten wir bei Ihrer Vision des "grünen Schrumpfens" verzichten?
Viele Menschen denken, wenn es kein Wachstum mehr gibt, sitzen wir wieder in der Steinzeit. Da ist der Widerstand groß. Doch niemand müsste wieder Felle tragen oder in Höhlen leben. Wenn wir unsere Wirtschaftsleistung um 50 Prozent halbieren würden, und das wäre schon der absolute Extremfall, dann wären wir immer noch so reich wie im Jahr 1978. Wer dabei war, weiß, dass wir 1978 genauso glücklich waren wie heute.
Wie soll das funktionieren? Unsere Welt heute ist viel vernetzter und globalisierter.
Natürlich nur gemeinsam. Klimaschutz und grünes Schrumpfen gelingen nur global. Das CO2-Molekül kennt ja auch keine Grenzen. Fast alle anderen Länder werden härter von der Klimakrise getroffen als Österreich. Der Wunsch nach Klimaschutz wird also überall wachsen. Und wie gesagt: So schlimm war es 1978 gar nicht. Man konnte zwar nicht übers Wochenende auf Betriebsurlaub nach Mallorca fliegen. Aber dafür fuhr man im Sommer drei Wochen lang mit dem Auto an den Strand nach Italien. Und künftig dann hoffentlich mit der Bahn.
Denken Sie, dass sich Ihre Vision bis 2033 erfüllen wird?
Das zu entscheiden, liegt nicht in meiner Hand. Aber Österreich selbst will ja bis zum Jahr 2040 klimaneutral werden. Und das kann nur mit grünem Schrumpfen gelingen.
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