Sich möglichst unauffällig verhalten und darauf hoffen, dass niemand nach dem Pass fragt – ungefähr so verbrachte der syrische Flüchtling Ghais die letzten Tage, während er in Zügen durch Europa fuhr.
Vor fünf Wochen lernte die KURIER-Reporterin den 22-Jährigen im serbischen Grenzstädtchen Sombor kennen. Von dort aus wollte er es über die Grenze zu Ungarn in die EU schaffen. Seitdem ist viel passiert, vor wenigen Tagen hat er sein Endziel, die Niederlande, erreicht. Dafür ist er illegal durch mehrere EU-Länder gefahren, auch Österreich hat er in öffentlichen Verkehrsmitteln durchquert. Aber wie hat er das geschafft, ohne von den Behörden aufgehalten worden zu sein?
Einerseits gibt es Tricks, um den Grenzkontrollen zu entkommen. Andererseits wird nicht immer so genau kontrolliert. „Die derzeitige Antwort Österreichs auf Migranten, die kommen und nicht bleiben wollen, ist ein einziges Durchwinken“, meint Petar Rosandić. Der in Wien lebende Aktivist, dessen Eindruck das österreichische Innenministerium auf Nachfrage im Übrigen zurückwies, kennt die Erfahrungen flüchtender Menschen entlang der Balkanroute wie kaum ein anderer. 2019 hat er die Initiative SOS Balkanroute gegründet, und versorgt Menschen an der bosnisch-kroatischen sowie serbisch-ungarischen Grenze mit Hilfsgütern, erlebt viele ihrer Geschichten hautnah mit.
Im Jahr 2022 hatte Rosandićs Team alle Hände voll zu tun, schließlich kamen laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex bis inklusive November rund 140.000 Menschen illegal über den Westbalkan nach Mitteleuropa – der höchste Wert seit der Flüchtlingskrise 2015. Damit ist die Westbalkan-Route die derzeit attraktivste für Flüchtlinge in die EU.
Gründe für diese deutliche Zunahme gibt es mehrere. Der Krieg in der Ukraine verschlechterte die Ernährungssicherheit sowie die Energieversorgung in vielen ohnehin schon armen Ländern. Doch auch die immer dramatischer werdenden Folgen des Klimawandels und bewaffnete Konflikte veranlassten Menschen 2022 dazu, sich aus Afrika, dem Nahen Osten oder Südostasien auf den Weg nach Europa machen.
Der heutige 18. Dezember ist der Internationale Tag der Migranten. 308.000 Versuche, ohne Erlaubnis in die EU zu kommen, verzeichnete Frontex in diesem Jahr bereits. Im Vergleich zu 2021 ist das ein Zuwachs von 68 Prozent. 140.000 Geflüchtete sollen allein über die Westbalkanroute gekommen sein, die meisten aus Syrien, Afghanistan und der Türkei.
In den vergangenen Monaten beobachtete Helfer Rosandić am Westbalkan eine Veränderung: „Kroatien hat die Zahl der Grenzbeamten sichtbar geschrumpft und geht humaner mit Geflüchteten um als in den Jahren zuvor.“
Routenverschiebung
Deshalb würden in letzter Zeit sehr viele Menschen nach Kroatien durchkommen – jenes EU-Land, das mit 1. Jänner 2023 dem grenzkontrollfreien Schengenraum beitritt. Die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens blockierte Österreich hingegen, laut Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) aufgrund der hohen Anzahl an Migranten, die über die Grenzen beider Länder kommen.
Für Petar Rosandić ist die aktuelle Durchlässigkeit nach Kroatien ein Beispiel dafür, dass Geflüchtete gern zu Druckmitteln werden. „Die hatten den Schengen-Beitritt schon in der Tasche und pushen die Zahlen möglicherweise hoch, um EU-Gelder zu erhalten“, vermutet er. Überraschen würde ihn das nicht, immer wieder würden Menschen auf der Flucht hin- und hergeschoben und so zu „Spielbällen“ der Politik gemacht. Auf dem Balkan gebe es teilweise sogar Verbindungen zwischen den Behörden und den Schleppern.
Wie viele andere Migranten hat auch der junge Syrer davon erfahren, dass der Grenzübertritt nach Kroatien derzeit vergleichsweise einfach ist. Nach mehreren missglückten Versuchen, über den etwa vier Meter hohen Grenzzaun zu Ungarn zu klettern, wechselte er seine Route. Ende November reiste Ghais nach Bosnien, von wo aus er mit einem kleinen Boot über den Grenzfluss Sava nach Kroatien kam.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Die Grenze nach Slowenien erreichte er nach einem langen Marsch zu Fuß, aus der Hauptstadt Ljubljana ging es per Zug weiter nach Innsbruck. Darauf folgte eine lange Fahrt durch Deutschland – und weiter bis in die Niederlande.
Seine Reise, die ihn mehr als 10.000 Euro gekostet hat, dauerte damit gut acht Monate – beim Aufbruch aus der Heimatstadt Damaskus im April hatte er mit wenigen Wochen gerechnet.
Gewaltsame Pushbacks
Allein in der Türkei hielt sich Ghais sieben Monate lang auf, bevor er die Grenze zum EU-Land Bulgarien überquerte. Diese nahm er als brutal wahr. „Die haben wortwörtlich die Hunde auf uns losgelassen“, erinnert sich Ghais.
Dass er es unversehrt nach Kroatien geschafft hat, könnte großes Glück gewesen sein. Vor dem Sommer galt auch diese Grenze als eine, an der Beamte gewaltsam gegen Geflüchtete vorgehen. Mit dem Schengenbeitritt Kroatiens könnte es erneut so werden, vermuten Hilfsorganisationen. „Wir rechnen ab 1. Jänner wieder mit mehr verletzten, von kroatischen Grenzbeamten geschlagenen Menschen“, sagt Rosandić.
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