Mittlerweile, nach fast fünf Monaten Krieg, unbeschreiblicher Zerstörung, zigtausenden Toten, Millionen Geflohenen und sechs EU-Sanktionsrunden gegen Russland, steht fest:
Die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen der EU gegen Russland zeigen nur quälend langsam Wirkung. Ihre Schlagkraft reichte bisher nicht aus, um Kreml-Chef Putin zu einem Stopp des Krieges zu bewegen. Im Gegenteil, Putin drohte vergangenes Wochenende: „Eine weitere Anwendung der Sanktionspolitik kann zu noch schwerwiegenderen, sogar zu katastrophalen Folgen auf dem globalen Energiemarkt führen.“
Der russische Präsident zielt damit auf einen wunden Punkt: Die Wirtschaftssanktionen würden Europa selbst mehr schaden als Russland, werden die sanktionskritischen Stimmen immer lauter. Die Inflation steigt und steigt. Dazu kommt die Sorge, dass der Kreml-Herr den Europäern das Gas bald völlig abdrehen könnte – eine Katastrophe für die europäische Wirtschaft; für die österreichische Wirtschaft im Speziellen.
Hat die EU bei der Planung der Sanktionen also nicht einkalkuliert, dass Putin das schlimmste Szenario wahr machen könnte? Hat Brüssel, wie Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer kritisiert, „nicht zu Ende gedacht“? Fahrlässig gehandelt?
Den USA war Europas Abhängigkeit von russischem Gas von jeher ein Dorn im Auge. Bis einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine drohte der US-Kongress noch mit Sanktionen gegen die – nie eröffnete – Pipeline Nord Stream 2. Sie hätte die Gasabhängigkeit vor allem Deutschlands von Russland noch weiter erhöht.
Die Gas-Alternative
Doch dann kam der Krieg, die umstrittene Gasleitung war obsolet – und die USA boten sich als Alternative an, um Europa vor einem Gasfiasko zu retten. US-Flüssiggas (LNG) soll das russische Erdgas größtenteils ersetzen.
Schon im November hatten die USA sowohl bei der EU als auch bei der NATO Alarm geschlagen: Mehr als 100.000 Soldaten hatte Russland da bereits an die Grenze zur Ukraine beordert. Stets leugnete der Kreml: Nein, eine Invasion stehe natürlich nicht bevor.
Doch die US- und britischen Geheimdienste misstrauten den russischen Beschwichtigungen. Sie rechneten bereits so sehr mit einem Angriff, dass die Politiker in Washington und London beschlossen: Sanktionen müssen für den Ernstfall vorbereitet werden, und in jedem Fall muss die EU mitziehen.
Spätestens als CIA-Direktor Bill Burns Mitte November EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen warnte, startete die Behörde in Brüssel ihre Vorbereitungen. Bis Dezember wurden in den Generaldirektionen der EU-Kommission für Energie, Finanzen und Handel sämtliche Beziehungen zu Russland durchgeackert, die verwundbaren russischen Sektoren abgeklopft und mögliche Strafen mit den USA abgestimmt.
Dabei ging man, wie Außenminister Alexander Schallenberg Anfang Februar schilderte, von „verschiedenen Eskalationsstufen“ aus. Je nach Szenario sollten die Strafen kalibriert werden. Was damals in der EU aber noch undenkbar schien: ein großer Angriffskrieg Russlands.
Ebenso undenkbar schien, dass Putin den Europäern die Energielieferungen abdrehen könnte: „Drohungen Russlands mit einem Lieferstopp für Gas und/oder Öl wären wenig glaubhaft“, schrieb im Februar das deutsche Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Begründung: Russland sei auf die Einnahmen aus den Energieexporten angewiesen, „und die mittelfristigen wirtschaftlichen Folgen von Handelsembargos werden Russland sehr viel härter treffen als die westlichen Verbündeten“.
Tatsache aber ist: Russland dreht – unabhängig von den EU-Sanktionen – schon seit Herbst an der Energiepreisspirale. Bereits im Jänner hatte sich der Gaspreis im Jahresvergleich um ein Drittel erhöht. In Brüssel geht man mittlerweile davon aus, dass Putin den Gashahn zudrehen könnte.
Am 20. Juli soll der EU-Fahrplan kommen, wie ein Gasfiasko mit möglichst wenig Blessuren in Europa überstanden werden kann.
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