Aus Koma erwacht: Wie Nawalny Putin so gefährlich werden konnte
„Wir müssen verstehen, dass wir unseren Alexej so, wie er war, so bald nicht zurückbekommen.“ Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow will weitermachen. Und auch die Juristin Ljubow Sobol, 32, die Produzentin von Nawalnys YouTube-Kanal macht weiter. Sie hat eine sechsjährige Tochter – und ist sich des Risikos voll bewusst. Denn so schnell wird der Chef, der aus dem Koma geholt wird, wohl nicht gesund.
Ihr Chef, der 44-jährige Kremlkritiker Alexej Nawalny, kämpft seit dem 20. August ums Überleben. Er wurde mit Nowitschok vergiftet. Seine Frau Julia und seine beiden Kinder sind jetzt in Berlin und werden von den Ärzten im Universitätsklinikum Charité immer als erste informiert.
Doch wer ist dieser Mann wirklich?
Nawalny war ein Blitzstarter, er studierte Jus und danach noch Aktienhandel und Börsenwesen.
Gleich danach trat er der Partei Jabloko (Apfel) bei, einem Sammelbecken demokratisch-liberaler Kräfte. Bei den Wahlen 2007 verlor die Partei um Grigori Jawlinski ihren letzten Abgeordneten. Das jämmerliche Wahlergebnis: 1,6 Prozent der Stimmen.
Da hatte sich Nawalny schon längst mit seinen überwiegend professoralen Parteifreunden überworfen. Er verabschiedete sich mit dem nationalistischen Gruß „Ehre sei Russland“. Zuvor hatte er mit Marija Gaidar, Tochter des verstorbenen Politikers Jegor Gaidar, die Bewegung „Da“ (Ja) gegründet.
In dieser Zeit punktete der junge Anwalt mit extrem rechtslastigen und fremdenfeindlichen Sprüchen vor allem gegen die Arbeitseinwanderer aus Zentralasien, denen man damals jedes nicht aufgeklärte Kriminaldelikt zutraute. Die Ukraine und Weißrussland hielt er für „Bruderstaaten“, kommt doch sein Vater aus der Ukraine, direkt an der weißrussischen Grenze. Dort hatte Alexej seine Sommerferien bei der Oma verbracht.
Putins "Partei der Gauner"
Für die Kreml-Partei „Einiges Russland“ des Wladimir Putin prägte er den Ausdruck „Partei der Gauner und Diebe“, was laut Umfragen bald 43 Prozent der Russen für zutreffend hielten.
Aber Putin wurde wohl erst 2013 auf den Oppositionspolitiker aufmerksam. Denn bei den Bürgermeisterwahlen im Herbst 2013 durfte er für die Partei des später auf einer Brücke erschossenen Boris Nemzow kandidieren. Nawalny erreichte sensationelle 27 Prozent der Stimmen und den zweiten Platz hinter Amtsinhaber Segej Sobjanin.
Sprache der einfachen Leute
Nawalnys Erfolgsrezept ist auch sein rhetorisches Talent. Er kommt bei den Moskauer und Petersburger Bobos gut an, spricht aber eben auch die Sprache der einfachen Menschen in den ländlichen Gebieten. „Sein politischer Instinkt lässt ihn fast nie im Stich“, sagt die Moskauer Politologin Jekaterina Schulmann. „Er hat Ausstrahlung und psychische Präsenz.“
Sein Wahlprogramm ist nicht besonders konkret. Sein Leitspruch: „Nicht lügen, nicht stehlen.“
Aber „vom Nationalisten und Fremdenfeind ist wenig geblieben, bs auf die Forderung nach freiem Waffentragen“, schreibt der Spiegel.
Große Geldsorgen hatte Alexej Nawalny nie: Für seine Arbeit bekommt er Spenden seiner vielen Anhänger. Es sind meist kleine Beträge.
Börsenprofi
Doch Nawalny ist ein Börsenprofi. Mit seinem Bruder Oleg gründete er eine zypriotische Offshore-Firma, was legal war und ihn zumindest geldmäßig vor staatlichen russischen Zugriffen schützte. Oleg Nawalny verdiente bei einem Geschäft mit dem französischen Kosmetikkonzern Yves Rocher nachweislich zwischen 2008 und 2011 etwa 1,2 Millionen Dollar.
Die andere Seite dieser Geschäfte: Als Minderheitsaktionär mehrerer staatsnaher oder staatlicher Betriebe verschaffte sich Nawalny Einblicke in das korrupte russische System. Als Rechtsanwalt gelang es ihm, in 45 von 75 von ihm angestrengten Gerichtsverfahren wegen Veruntreuung von Staatsgeldern recht zu bekommen. Umgerechnet knapp eine Milliarde Euro musste deshalb an den Staat zurückgezahlt werden. Und so stieg mit den Jahren auch die Zahl seiner Feinde.
Im Übrigen hat der manchmal von seiner Mission fast besessen wirkende Nawalny auch in Oppositionskreisen Gegner, die ihn nicht ausstehen können.
Aber Nawalny blieb unbeirrbar und baute sich ein Medienimperium auf. Sein wichtigster Kanal ist YouTube. Seine Anti-Korruptions-Dokus sind höchst professionell gemacht, oft witzig und rasant erzählt. Ein Megahit war 2017 ein Film über Premierminister Dmitrij Medwedew, der 35 Millionen Mal geklickt wurde und Großdemonstrationen auslöste. Mit Drohnen wurde die Luxusresidenz an der Wolga und das Weingut in der Toskana des Regierungschefs gefilmt. Auch Filme über einen Putin-Leibwächter und dessen Firmenkonglomerat und über die Müllgeschäfte der Söhne des Generalstaatsanwalts Jurij Tschajka wurden Hits.
Es wird weiter gesendet
Derzeit senden Nawalnys Leute hauptsächlich über die Ereignisse in Weißrussland. Nawalny, der bereits unzählige Male verhaftet wurde und deshalb als Vorbestrafter nicht mehr selbst bei Wahlen kandidieren darf, hat, typisch für ihn, das „schlaue Wählen“ erfunden. Auch ein Hauptthema in seinen Sendungen, die nun ohne ihn stattfinden.
„Schlau wählen“ bedeutet, dass bestimmte vom Kreml genehmigte Pseudo-Kandidaten gezielt bei Regionalwahlen gepusht werden. So gewann etwa Sergej Furgal von der Partei des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski 2018 überraschend die Gouverneurswahl von Chabarowsk im äußersten Osten Russlands gegen den haushoch favorisierten Kreml-Kandidaten.
Vor zwei Monaten wurde Furgal wegen fadenscheiniger Gründe verhaftet. Die Proteste in Chabarowsk hören seither nicht auf: „Putin ist ein Dieb“, rufen die Demonstranten in der acht Flugstunden von Moskau entfernten Konkurrenzstadt von Wladiwostok.
Bevor Nawalny vermutlich in Omsk vergiftet wurde, war er übrigens bei seinen Anhängern und Mitstreitern in Wladiwostok gewesen.
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