Westukraine: Der Krieg weit weg, der Winter nah
„Sie waren Brüder“, sagt der alte Mann. „Donbass. Sie traten auf eine Miene. Puff!“ – seine Hände imitieren eine Explosion, sein Blick wird starr, richtet sich auf die Porträts zweier ukrainischer Soldaten. Sie zählen zu den 19 Gefallenen des Ortes Nemyriw – 350 Kilometer nordwestlich der Front in Cherson –, für die die Gemeinde Gedenktafeln vor der Kirche aufgestellt hat. Über jedem der Porträts weht eine ukrainische Flagge, Angehörige haben Blumen aufgesteckt. Der Mann bekreuzigt sich, geht in Trauer versunken weiter. Wenige Meter weiter ist Markttag. Händler preisen Fische aus dem nahe gelegenen See an, eine Gruppe Straßenmusiker spielt auf. Kinder spielen Fangen, Frauen lachen – in diesem Moment zeugt in Nemyriw nur das Fehlen junger und mittelalter Männer vom Krieg.
Bombardements
Doch dieser meldet sich aus der Ferne: Zur gleichen Zeit schlagen russische Raketen in einigen Energiewerken, vor allem im Westen der Ukraine, ein. In einigen Regionen fällt der Strom aus. Später wird der Stromversorger „Ukrenergo“ vermelden, dass das Ausmaß der Schäden mit den Folgen der Angriffe vom 10. bis 12. Oktober vergleichbar sei, „oder diese sogar noch übertreffen könnte“. Bereits zuvor waren laut der ukrainischen Regierung 40 Prozent der Energieinfrastruktur zerstört.
Nach wie vor dürfte der Kreml versuchen, durch die Zerstörung der ukrainischen Kraft- und Umspannwerke den Willen der Bevölkerung zu brechen. Zumindest in den Regionen westlich des Flusses Dnepr ist dies augenscheinlich nicht gelungen: Bis knapp vor der Hafenstadt Odessa herrscht Gelassenheit in den überall geöffneten Cafés, Einkaufszentren und Märkten.
Kein Sicherheitspuffer
Wie es weitergeht, wird von der Härte des kommenden Winters abhängen: Für die kommende Heizsaison hat die Regierung einen Vorrat von 19 Milliarden Kubikmeter Gas als Ziel gesetzt, doch derzeit sind es nur etwas mehr als 14 Milliarden.
Einen Sicherheitspuffer für einen kalten Winter gibt es nicht. Zudem hält Russland das AKW Saporischschja besetzt. Dieses ist für rund ein Viertel der ukrainischen Stromversorgung verantwortlich. Doch die Schläge gegen die Infrastruktur dürften weitergehen: Erst am Freitag wurden neue Transportflüge aus dem Iran nach Russland bekannt, ob die Flugzeuge bereits die kolportierten ballistischen Raketensysteme geladen hatten, ist nicht bekannt. Doch schon jetzt ist klar, dass die ukrainische Luftabwehr überfordert ist – da ändert auch der Abschuss eines russischen Marschflugkörpers durch einen ukrainischen Kampfjet am Samstag nichts.
Angriff auf Cherson
Aufgrund der großen Fläche des Landes – allein der Oblast Lugansk ist mit seinen 26.000 Quadratkilometern bedeutend größer als Niederösterreich (19.000) – ist es trotz der jüngsten Lieferungen moderner Luftabwehr nicht möglich, die Ukraine von allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlich benötigen die ukrainischen Streitkräfte die vorhandenen Luftabwehrsysteme dringend an der Front: 40.000 Soldaten sollen für eine Offensive für die Rückeroberung der Stadt Cherson bereit stehen. In den vergangenen Tagen waren erste Angriffe gescheitert, die Ukrainer dürften hohe Verluste erlitten haben.
Russland evakuiert seit Mittwoch Tausende Zivilisten über den Fluss Dnepr.
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