Wer wird zum vermeintlichen Orbán-Bezwinger?
Mit gezückten Handys stehen die Menschen auf dem Lajos-Kossuth-Platz Schlange. Man könnte meinen, die Person, die sie umringen, sei ein internationaler Superstar. Doch bei dem groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann handelt es sich um Gergely Karácsony, den grün-liberalen Bürgermeister Budapests – gemeinsamer Kandidat der Oppositionsparteien Dialog (Parbeszed) und Sozialisten (MSZP) und lange Zeit aussichtsreichster möglicher Bezwinger Orbáns.
Bis sich der 46-Jährige kurz vor den Stichwahlen der Spitzenkandidaten, die diese Woche abgehalten wurden, zurückgezogen hat.
"Ich verstehe nicht, warum er das gemacht hat", zeigt sich ein Unterstützer Karácsonys ratlos. "Dabei war er doch Zweitplatzierter nach den ersten Vorwahlen."
Für noch mehr Überraschung sorgt allerdings seine Unterstützung des in den Vorwahlen Drittplatzierten Péter Márki-Zay, liberalkonservativer Bürgermeister der ostungarischen Kleinstadt Hodmezövasarhely – und mittlerweile siegessicherer Populist. Ihm traut Karácsony offenbar die Führung einer geeinten Opposition zu – und nur die hat eine Chance, Orbán von der Macht zu verdrängen.
Das Ziel der ungarischen Opposition für die anstehende Parlamentswahl im Frühling 2022: der Sturz Victor Orbáns. Dafür wird ein gemeinsamer Kandidat aufgestellt. Dieser wurde in zwei Wahlgängen ermittelt.
Bei den Vorwahlen Ende September siegte Dobrev mit 34,8 Prozent. Karácsony lag mit 27,3 Prozent auf Platz zwei, Márki-Zay erreichte 20 Prozent.
634.000 Ungarn gaben bei den Vorwahlen ihre Stimmen ab, das sind acht Prozent aller Wahlbeteiligten.
Auch er ist an diesem Tag bei der Wahlkampfveranstaltung anzutreffen, nimmt wohlgesonnene Worte und zustimmende Schulterklopfer entgegen. Doch nicht von allen: Eine junge Studentin äußert Bedenken: "Márki-Zay stellt sich gegen die Rechte von Minderheiten und spricht sich für die ‚gesunde Ohrfeige‘ bei Kindern aus. Ich weiß nicht, ob ich ihn wählen werde."
"Ungarischer Trump"..
Der 49-Jährige von der Bewegung Ungarn hat sieben Kinder, gilt als christlich-konservativ und lässt keine Gelegenheit aus, öffentlich zu betonten, er sei bereits zu jener Zeit ein braver Kirchengeher gewesen, als die rechtskonservative Fidesz noch eine linksliberale Partei war. Kritiker nennen ihn einen "ungarischen Trump": Er gilt als unberechenbar und schwingt populistische Reden.
Dennoch scheint Márki-Zay, so dürfte es zumindest Karácsony sehen, eher imstande, Wechselwähler und Fidesz-Anhänger anzuwerben als die pro-europäische Sozialdemokratin Klára Dobrev, Kandidatin der Demokratischen Koalition (DK) und Siegerin der ersten Runde der Vorwahl.
Dobrev ist Juristin, spricht fließend Deutsch, gilt als traditionelle Sozialdemokratin und ist die Enkelin eines führenden Politikers des kommunistischen Regimes in der Nachkriegszeit. Würde sie gewinnen, wäre sie die erste Ministerpräsidentin Ungarns. Auf dem Lajos-Kossuth-Platz ist sie als einzige Spitzenkandidatin nicht persönlich anzutreffen – ein großer Fehler, meinte eine junge Wählerin: "Sie muss den Menschen zeigen, dass die Vorurteile über sie nicht stimmen."
... gegen "Clinton-Verschnitt"?
Davon gibt es einige: Kritische Stimmen unterstellen der 49-jährigen Europa-Parlamentarierin, sie sei die Marionette ihres Mannes, des früheren Premiers Ferenc Gyurcsány. Der DK-Chef gilt aufgrund seiner von Korruption gezeichneten Amtszeit von 2004 bis 2009 als besonders unbeliebt, die Fidesz-Partei nennt Dobrev beim Namen ihres Mannes – obwohl sie nicht so heißt. Die Regierung scheut nicht einmal davor, Gyurcsány selbst statt Dobrev neben Karácsony auf den Plakaten ihrer Gegenkampagne zu zeigen.
Schon heute Abend könnte feststehen, wem die Oppositionsanhänger eher einen Sieg gegen Orbán zutrauen: Dobrev oder Márki-Zay.
Acht Prozent entscheiden
Die Stimmabgabe war bis Samstag, 20 Uhr, möglich – sowohl online als auch in mehreren Wahllokalen. Rund 634.000 Ungarn stimmten bei den ersten Vorwahlen, acht Prozent aller Wahlberechtigten. Eine ähnliche Wahlbeteiligung wurde jetzt für die Stichwahl erwartet, bis Mittwoch hatten 345.000 Ungarn ihre Stimme abgegeben.
Orbán schien vom Vorgehen der Opposition lange unbeeindruckt, aber das hat sich geändert: Mittlerweile macht er Stimmung gegen das gemeinsame Vorgehen und lockt mit Wahlzuckerl: Zuletzt versprach er mehr Geld für Pensionisten, Pflege- und Lehrkräfte, eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns auf 200.000 Forint (555 Euro, Anm.) und diverse Steuererleichterungen.
Ob Dobrev oder Márki-Zay – einer der beiden muss sich spätestens ab morgen überlegen, wie die Opposition mit diesen Wahlzuckerl mithalten kann.
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