Bei Igors Anblick kommen Zweifel auf, ob dieser große, kräftige Mann mit den dunklen Haaren und den ernsten Augen überhaupt vor irgendetwas Angst hat. Doch die hat er. "Meine größte Furcht ist ein Angriff Russlands", gesteht der NGO-Chef dem KURIER, während er mit ausländischen Journalisten vom Flughafen in die moldawische Hauptstadt Chișinău fährt.
Die Republik Moldau, seit 1991 unabhängig, und ihre 2,6 Millionen Einwohner spüren den Krieg in der Ukraine mehr als alle anderen Länder in Europa. Zum einen, weil die geflüchteten Menschen aus der Ukraine zuerst die moldawische Grenze passieren und um Hilfe bitten – gemessen an der eigenen Bevölkerungszahl hat Moldau mehr Geflüchtete aufgenommen als jeder andere Staat. Zeitweise sollen sich laut Medienberichten 600.000 Ukrainer im Land aufgehalten haben.
Zum anderen, weil Moldau, der geografischen Nähe geschuldet, den Krieg in der Ukraine wirklich vor der Haustür hat: Wer an der Grenze wohnt, hört regelmäßig Flugalarm oder Raketeneinschläge. Und wenn in der Ukraine das Licht ausgeht, dann tut es das meist zeitgleich in Moldau. Denn das Stromnetz ist eng an jenes der Ukraine gebunden.
Geheimdienst warnt vor Angriff
Und dann ist da noch die sowjetische Geschichte des Landes und seine pro-russische, abtrünnige Provinz Transnistrien, eingeklemmt zwischen dem Fluss Dnister und der Landesgrenze. All das führt dazu, dass sich Moldau wohl am ehesten in die Lage der Ukrainer hineinversetzen kann. Und aktuell große Angst davor hat, Putins nächstes Ziel zu sein.
Mitte Dezember warnte der moldawische Geheimdienst, dem kleinen Land in der Größe von Niederösterreich und der Steiermark könnte demnächst ein Angriff Russland drohen.
"Die Frage ist nicht, ob die Russische Föderation eine neue Offensive gegen das Territorium der Republik Moldau durchführen wird, sondern wann", sagte Geheimdienstchef Alexandru Musteata im Staatsfernsehen; er vermutete einen Angriff zwischen Jänner und April.
1.500 Soldaten
Fakt ist, dass in Transnistrien, wo etwa 500.000 Menschen leben, ein von Moskau unterstütztes Regime an der Macht ist. Dass etwa ein Drittel der transnistrischen Bevölkerung russischstämmig ist. Dass Moskau in Transnistrien geschätzt 1.500 Soldaten stationiert hat, offiziell als "Friedenstruppe", und dass die Armee der Separatisten eng mit den Russen zusammenarbeitet.
Trotzdem halten internationale Experten die Ausweitung des Konflikts auf Moldau aktuell für unwahrscheinlich. Russland habe angesichts der Truppen-Stärke zwar die Möglichkeit, die moldawischen Streitkräfte zu schlagen.
Danach brauche es aber den Anschluss transnistrischer Kräfte an russische Streitkräfte und Versorgung. Die Lage der russischen Truppen im Süden der Ukraine mache diese aktuell aber unmöglich.
Igor fürchtet sich dennoch. Und zwar nicht erst seit der Warnung des Geheimdienstes, sondern schon viel länger.
Russlands langer Arm zündelt
Pro-russische Kräfte gibt es seit Zerfall der Sowjetunion im ganzen Land, auch in der Hauptstadt Chișinău. "Warum, denkt ihr, ist die Stadt trotz Krieg und hoher Energiepreise so beleuchtet?", fragt Igor während der Autofahrt. Auf das ratlose Kopfschütteln antwortet er, der Bürgermeister sei pro-russisch eingestellt, während die Bundesregierung einen prowestlichen Kurs verfolge.
Chișinău ist von Stromausfällen und hohen Energiepreisen bisher gezielt verschont geblieben; man könnte meinen, es leuchtet aus Solidarität mit dem Kreml.
Immer wieder kommt es in der Hauptstadt vor dem Parlament zu pro-russischen Protesten; die Demonstrierenden, meist von Russland gelenkt und bezahlt, machen den pro-westlichen Kurs der Regierung für die Probleme verantwortlich. Besonders viele Menschen versammelten sich Mitte Dezember, als sechs pro-russische Fernsehsender wegen "Desinformation" geschlossen wurden. Moskau sah darin einen "Angriff" auf die russischsprachige Bevölkerung, die pro-russischen Parteien riefen zu Protesten auf.
Gegen die Furcht vor Russland hilft auch kein EU-Kandidatenstatus, der Moldau gemeinsam mit der Ukraine im Juni 2022 verleihen wurde. "Der Status ändert nichts daran, dass den Menschen die Perspektive fehlt", sagt Igor.
Unleistbarer Kaffee
Viele Menschen leben in Armut, die Durchschnittsgehälter liegen bei 500 bis 700 Euro im Monat. Jeder Fünfte hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die aktuelle Inflation verschärft den Alltag, sie betrug zuletzt 34 Prozent.
Igor führt durch den Supermarkt: Das halbe Kilo Tomaten kostet mittlerweile umgerechnet einen Euro. Das ist für Westler immer noch extrem billig, für die Bevölkerung in Moldau teuer. Selbiges beim Liter Milch um umgerechnet 1,20 Euro. Das Viertelkilo Kaffee kostet etwa fünf Euro, so viel wie in Österreich – "unleistbar für uns", sagt Igor.
Staatliche Unterstützung gibt es keine, viele Menschen sind abhängig von Spenden und Hilfszahlungen von NGOs. Oder von den Finanzspritzen von Verwandten im Ausland.
Die Auswanderung ist gleichzeitig das größte Problem des Landes. Die Hälfte der Bevölkerung hat zusätzlich zur moldawischen die rumänische Staatsbürgerschaft – und ist somit EU-Bürger. "Da hält einen hier nicht mehr viel", sagt Igor. Die Jungen gehen, die Alten bleiben. Und mit ihnen unzählige Stellen, die nicht mehr besetzt werden können.
Seinen Optimismus hat Igor trotz dieser Perspektivlosigkeit nicht verloren. "Das können wir uns nicht leisten", meint er schulterzuckend. Sein Tipp zum Abschied: "Kommt das nächste Mal im Frühling oder Sommer, dann ist es weniger trüb und grau hier."
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