Odessa: Wo das Licht an und das Leben weiter geht
Vica will einmal Bäckerin werden. "Meine Lieblingsspeise sind Hotdogs, die werde ich dann in meinem eigenen Geschäft verkaufen", erzählt die Neunjährige. Vica ist ursprünglich aus Cherson, jener Stadt, die monatelang unter russischer Belagerung stand. Monate, in denen Vica nicht in die Schule gehen durfte, mit ihrer Familie auf engstem Raum eingesperrt war. Ihr für ein Kind so ernster Gesichtsausdruck lässt erahnen, dass das Erlebte Spuren hinterlassen hat.
Seit wenigen Wochen ist sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Odessa. Schüchtern steht sie im Türrahmen, die hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Die Aufschrift ihres weißen Pullis – "Love is all you need" – wirkt wie ein Hilferuf mitten im Krieg. Vica schlägt sich unglaublich tapfer. Die mitgebrachte Schokolade entlockt ihr ein Lächeln. Schnell verstaut sie diese in einer Schublade.
Odessa ist eine Art Parallelwelt: Die Zerstörung des Krieges findet am Stadtrand statt, der Kern blieb von Bombardements bisher verschont. Vor 200 Jahren ließ Zarin Katharina die Große die Stadt von europäischen Architekten erbauen. Vielleicht wirkt sie deswegen ein wenig wie ein orthodoxes Wien am Schwarzen Meer.
Das Bethlehem der Ukraine
Kurz vor Weihnachten wird die Hafenstadt zum Stall von Bethlehem für Binnenflüchtlinge. Seit der Befreiung Chersons im November kommen täglich tausend Menschen aus der 220 Kilometer entfernten Stadt hierher; über 60.000 Binnenflüchtlinge insgesamt – etwas weniger als in ganz Österreich – sollen es mittlerweile sein. Sie erzählen Geschichten, die unvorstellbar sind.
Anna arbeitet als Psychologin in einer Hilfsstation der Caritas Odessa. Sie trägt eine dicke, blaue Fleecejacke der Hilfsorganisation, ihre Augen sind traurig. Anna erzählt von einem dreijährigen Buben aus Cherson, den sie betreut: "Seine Tante kam zu uns, weil der Bub in der Nacht schrie und ins Bett machte. Seine Mutter dürfte vor seinen Augen erhängt worden sein. Seine Zähne sind ausgeschlagen, und er dürfte sexuell missbraucht worden sein."
Nina kam mit ihrem sechsjährigen Sohn Hilib aus Cherson. Ihr Mann kämpft für die Ukraine: "Wir hätten viel früher fliehen sollen, aber dann ging alles so schnell." Während der Besetzung durften sie das Haus nicht verlassen, die Tage waren unerträglich. "Ich weiß nicht, ob wir Weihnachten feiern. Ich habe aufgehört, ein Morgen zu planen."
Der Kriegsalltag in Odessa: An den Hauswänden sind überall Ukraine-Fahnen.
Zwei Geflüchtete aus Cherson holen Essensnotpakete ab.
Die Caritas Odessa versorgt mit Notrationen.
Zehntausende Flüchtlinge finden in Odessa Zuflucht, darunter unzählige Kinder.
Alice und Sergej verkleiden sich jedes Jahr als Weihnachtsmann und Helferin. Und wollen sich das auch heuer nicht nehmen lassen.
Generatoren sind teuer. Sie sorgen dafür, dass in Odessa dem Alltag nicht das Licht ausgeht.
Ein Graffiti in einem Hilfszentrum der Caritas.
Zuflucht finden die Geflüchteten in Wärmestuben und Notschlafstellen, unter anderem von der Caritas Odessa. Dort werden Essenspakete, Schlafsäcke und warme Kleidung verteilt. In derartige Projekte fließen auch Spenden der Caritas Österreich. „Die Menschen hier haben Schrecklichstes erlebt. Diese Hilfe wird noch einen langen Atem brauchen, selbst wenn dieser Krieg morgen enden würde“, so Caritas Wien-Chef Klaus Schwertner. Gleichzeitig „ist es berührend zu sehen, wie trotzdem zusammengehalten wird.“
Viele Geflüchtete wollen nicht Flüchtlinge bleiben, so wie Natalia. Sie kam vor vier Monaten aus Mariupol nach Odessa, einen Koffer im Gepäck; was sie zurückließ, wurde zerbombt. Jetzt sitzt sie in der Notstelle der Caritas hinter einem Berg von Bettbezügen und telefoniert hektisch. Täglich melden sich allein in diesem Zentrum bis zu 300 Menschen, die Hilfe brauchen.
Standhaft im Dunkeln
Und trotz all dieser erlebten Grausamkeiten, die den Geflüchteten anzusehen sind, versprüht Odessa etwas wie Widerständigkeit. Der Krieg macht sich in der Stadt in täglichen Stromausfällen und Luftalarmen bemerkbar. Nachts ist es stockdunkel, die Straßenbeleuchtung wird ausgeschaltet, um Strom zu sparen. Die größten Bedrohungen scheinen Verkehrsunfälle und Kleinkriminalität. All dem trotzt die Bevölkerung standhaft.
In der Früh hatte Anatoly mehrere Stunden lang wieder mal keinen Strom. "Aber wir wohnen in einer alten Wohnung und heizen mit Gas. Es ist also zumindest warm", erzählt der 70-Jährige. Früher war Anatoly Fahrer eines großen Fischunternehmens, jetzt spielt er Taxi, wenn die Straßenbahnen wieder mal ausfallen. An den Luftalarm hat er sich, wie die meisten Bewohner Odessas, mittlerweile gewöhnt. "Ich kann doch nicht jeden Tag mehrere Stunden in einem Bunker hocken. Ich hab Enkelkinder, um die ich mich kümmern muss", erklärt Anatoly.
Der Widerstand Odessas äußert sich im Lebenswillen der Bevölkerung: Die meisten Geschäfte sind geöffnet, die Lokale servieren Borschtsch und Mlynzi, Palatschinken mit Topfen und Marmelade. Wenn plötzlich Licht und Musik ausfallen, wickeln sich die Gäste in die bereit liegenden Decken. Es dauert nicht lange, dann ertönt das dumpfe Brummen des Generators. Das Licht geht an, das Leben weiter.
Weihnachtskrieg
Auch Weihnachten wollen sich die meisten Menschen vom Krieg nicht nehmen lassen. Selbst dann nicht, wenn dieser das Fest selbst betrifft. 75 Prozent der Ukrainer gehören der orthodoxen Kirche an, die nach dem julianischen Kalender lebt, und Weihnachten am 7. Jänner feiert. Um sich von dem der russisch-orthodoxen Kirche und dem Moskauer Patriarchen Kirill, der den Angriff Putins befürwortet, so weit wie möglich zu distanzieren, erlaubt die ukrainisch-orthodoxe Kirche erstmals das Weihnachtsfest am 25. Dezember.
Ob Dezember oder Jänner: Ein Teil der Geschäfte in der Innenstadt Odessas ist weihnachtlich geschmückt; neben der Ukraine-Fahne, die mittlerweile von jeder Hauswand leuchtet, hängt vielerorts Weihnachtsdeko vor den Fenstern. Alice und Sergej, beide aus Odessa, stehen in dicken Mänteln eingepackt vor einer Ausgabestation für Essenspakete. Alice, eigentlich Schauspielerin, zückt ihr Handy: "Wir verkleiden uns jedes Jahr als Weihnachtsmann und Helferin, verteilen Geschenke und machen Hausbesuche." Nie und nimmer wolle sie sich das heuer nehmen lassen.
Am hellsten erstrahlt der Lebenswille Odessas aber im weihnachtlichen Vergnügungspark in der Nähe des Piers. Kinder laufen Schlittschuh, im Hintergrund leuchtet das Riesenrad. An diesem Ort herrscht eine Unbeschwertheit, die man der neunjährige Vica aus Cherson nur wünschen kann.
Nach dem Abschiednehmen läuft sie den Journalisten noch hinterher, in der Hand eine Mandarine und einen Apfel. Im Austausch gegen die mitgebrachte Schokolade.
Die Reise wurde von der Caritas organisiert.
Spendenkonto:
BIC: GIBAATWWXXX
IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560
Kennwort: Ukraine Soforthilfe
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