Die Islamisten, die Präsident Erdoğan unter Druck setzen
Bedrohliche Musik läuft im Hintergrund. Dazu verpixelte Bilder von Regenbogenfahnen, und dunkle Zwischenbilder von Kindern, die, das Kuscheltier an den Körper gedrückt, traurig aus dem Fenster blicken. Dann die US-Präsidenten Barack Obama, Joe Biden und – etwas fehl am Platz – Donald Trump. "Sie wollen die menschliche Natur und die Naturgesetze zerstören", sagt eine drohende Stimme im Hintergrund.
Mit derartigen Videos machte Fatih Erbakan in den vergangenen Wochen Wahlkampf: Homo- und Transsexualität "aus den USA importiert", und seine Partei, die islamistische Yeniden Refah Partisi (übersetzt "Neue Wohlfahrtspartei"), das einzige Bollwerk gegen diesen Wahn – so wird es suggeriert. "Wir werden keine perversen LGBT-Organisationen in unseren Städten zulassen!", schrieb Erbakan darunter.
Erbakans Partei ging – nach der säkular-sozialdemokratischen CHP – im prozentualen Landesdurchschnitt als größte Wahlsiegerin aus den türkischen Kommunalwahlen hervor. Die Yeniden Refah Partisi wurde, zwar mit enormem Abstand, drittstärkste politische Kraft im Land (6,2 Prozent), und überholte die pro-kurdische, linksgerichtete DEM-Partei (frühere HDP). In den eigentlich traditionellen AKP-Hochburgen Yozgat in Zentralanatolien und Şanlıurfa im Südosten des Landes verzeichnete sie Siege, die vor allem die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan schmerzten.
Nachfolge-Partei von Erdoğans politischem Ziehvater
Die Partei wird unter der konservativen, streng religiösen Wählerschaft zunehmend als ernst zu nehmende Konkurrenz für die AKP gesehen. Das hat nicht nur inhaltliche, sondern auch persönliche Gründe: Der Parteivorsitzende Fatih Erbakan ist der Sohn des Urvaters des politischen Islams in der Türkei, Necmettin Erbakan. Er hatte in den 1990er Jahren die Dominanz der laizistischen Parteien beendet und war damals für kurze Zeit sogar Ministerpräsident.
Seine Parteien sowie Erbakan selbst waren mehrere Male mit einem Politikverbot belegt worden, weil der Politiker gegen den in der Verfassung verankerten Laizismus der türkischen Republik verstieß. Erbakan hatte die Islamisierung und Nationalisierung der Türkei vorangetrieben, war etwa von einer "sich auf den Islam stützenden Weltordnung" überzeugt.
Für Präsident Erdoğan ist das Erstarken der Islamisten auch eine persönliche Angelegenheit: Necmettin Erbakan gilt als sein politischer Ziehvater. Erdoğans politische Karriere startete in dessen Parteien, die Gründung seiner AKP vollzog er mit anderen ehemaligen Parteimitgliedern. Wie sehr sich der türkische Präsident heute von seinem einstigen Mentor gelöst hat, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Stärkste Kraft wurde überraschenderweise die größte Oppositionspartei, die säkular-sozialdemokratische CHP: Sie gewann35 der 81 Bürgermeisterposten. Die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde erstmals seit ihrer Gründung 2002 nur zweitstärkste Kraft. Sie gewann 24 Bürgermeisterämter.
Die prokurdische DEM-Partei holte zehn Ämter, die ultranationalistische Regierungspartner Erdoğans, die MHP, gewann acht. Die islamistische Yeniden Refah Partei gewann zwei der Ämter, wurde aber im prozentualen Landesdurchschnitt drittstärkste Kraft (6,2 Prozent), wenn auch mit großem Abstand zur AKP (35,5 Prozent) und der CHP (37,7 Prozent).
Die Wahlbeteiligung fiel geringer als bei vergangenen lokalen Abstimmungen aus: Sie habe zwischen 78,1 und 80,7 Prozent gelegen. 2019 hatten etwa 84 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme bei der Kommunalwahl abgegeben.
Fatih Erbakan hat sich während der Corona-Pandemie als Impfgegner einen Namen gemacht. Er behauptete, Geimpfte könnten Affenmenschen in die Welt setzen. Auch fordert er eine Abschaffung eines Gesetzes zum Schutz von Frauen vor Gewalt in der Familie, und stellte er sich vehement gegen die Zustimmung Ankaras zur NATO-Mitgliedschaft Schwedens.
Buhlen um ultrareligiöse Wähler
Erstmals war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Vorjahr angetreten und hatte Erdoğans national-konservatives Parteienbündnis unterstützt. Dass bei den Kommunalwahlen eigene Kandidaten aufgestellt wurden, dürfte auf inhaltliche und persönliche Uneinigkeiten zurückzuführen sein. Die islamistischen Kleinparteien (neben der Yeniden Refah Partisi die rechtsextreme, ultranationalistische MHP oder die kurdisch-islamistische Hüda Par) fordern im Gegenzug für ihre Unterstützung Zugeständnisse von der AKP, die zum Teil sogar Erdoğans Parteimitgliedern zu weit gehen.
Dem türkischen Präsidenten war schon vor der Wahl klar, dass Erbakan ihm Wähler kosten würde. Auf Wahlkampfveranstaltungen nannte er ihn einen "Zirkusakrobaten" und warf Erbakan "politische Erpressung" vor.
Neben homophober Gesellschaftspolitik punkteten die Islamisten vor allem bei jener konservativen, streng religiösen Wählergruppe, die enttäuscht war über Erdoğans Wirtschaftspolitik. Und noch ein Thema verschaffte ihnen Aufwind: der Krieg in Gaza und die Solidarität der türkischen Bevölkerung mit dem palästinensischen Volk. Die versuchte zwar auch Erdoğan, für sich zu nutzen. Doch die Islamisten stürzten sich auf die wirtschaftlichen Beziehungen, die die Türkei mit Israel trotz der pro-palästinensischen, teils antisemitischen Rhetorik des Präsidenten weiter aufrechterhält.
Medienberichten zufolge soll die Türkei etwa im Jänner Waren im Wert von fast 319 Millionen US-Dollar nach Israel exportiert haben, darunter Sprengstoffe, Flugzeugteile, Waffen und Munition. Die türkische Regierung bestreitet das.
Wahl-Gewinner abgesetzt
Was bedeutet das Erstarken der Islamisten für die Zukunft der Türkei und Präsident Erdoğan? Wohl weitere politische Zugeständnisse, um sich deren Unterstützung im Parlament und in der Bevölkerung auch für ein potenzielles Verfassungsreferendum zu sichern.
Im Ernstfall dürfte sich Erdoğan aber des Rechtsstaats bedienen, den er unter seinen Einfluss gebracht hat, wie er es auch gegenüber anderen Parteien macht. So wurde dem pro-kurdischen DEM-Politiker, der in der osttürkischen Provinz Van mit 55 Prozent der Stimmen zum Gouverneur gewählt worden war, das Wahlrecht entzogen, und der AKP-Kandidat als Bürgermeister eingesetzt. Nach Protesten wurde ein zweiwöchiges Protestverbot in der Provinz erlassen.
(Anmerkung, Stand 03.04.2024, 21.20 Uhr: Nach Protesten auch in anderen Städten der Türkei wurde der DEM-Kandidat in der Provinz Van am Mittwochabend Berichten zufolge wieder ins Amt gesetzt.)
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